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Berlin: Hans-Peter Schneider (Geb. 1941)

Der Mensch kann reisen, wohin er will? Von wegen!

Das war also der Platz, an den Gott ihn stellen woll- te: keine Kirche weit und breit.

Ihren Namen hat die Andreasgemeinde von der Andreaskirche, aber die war im Krieg schwer getroffen worden, und die Genossen hatten den Rest gesprengt. Schließlich bauten sie gleich nebenan die Stalinallee, eine neue Straße für die neuen Menschen einer neuen Zeit. Und der neue Mensch, befanden sie, dürfe nicht von abergläubischen Glockentönen aus der Vorgeschichte der Menschheit belästigt werden. Schlimm genug, dass diese alten Häuser mit ihren Hinterhöfen noch da waren. Als Hans-Peter Schneider und seine Familie Mitte der siebziger Jahre hier ankamen, setzte die DDR gerade ihr Sprengwerk fort. Die Anfangsszene der „Legende von Paul und Paula“ hält fest, wie ganze Straßenzüge in sich zusammenfielen. Platz machen fürs Neue!

Platz machen für Gott!, dachte Hans-Peter Schneider. Aber wo konnte das schwerer sein als ausgerechnet hier?

Der Mittelpunkt seiner neuen Gemeinde war ein Bahnhof, der Ostbahnhof. Ein Bahnhof, dieser Ort des Transitorischen schlechthin, ist gewissermaßen der Gegenort zur Kirche. Und er besaß nichts, um den Pfiffen der Lokomotiven und den Ankündigungen der Ferne etwas entgegenzusetzen, keine Glocke. Schneider hatte etwas gegen die Ideologie der Bahnhöfe, der Mensch könne reisen, wohin er wolle.

Mancher Zug in seinem Leben war längst abgefahren. Vor allem der, der noch im Juli 1961 seine Familie in den Westen gebracht hatte, Mutter, Bruder und Großmutter. Dass sie einen Vater hatten – also nicht irgendeinen, sondern einen mit Gesicht und Namen –, hatte die Mutter ihren Söhnen erst jetzt gesagt. Er lebte im Westen, sie selbst stammte auch von dort. Darum fuhren sie nun alle über die Grenze. Nur Hans-Peter sagte: Ich komme nicht mit! Mutter, Bruder und Großmutter sahen ihn erstaunt an. Der Zwanzigjährige war noch nie durch übermäßige Anhänglichkeit gegenüber der DDR aufgefallen. Aber um die DDR ging es auch nicht, oder nur indirekt, erfuhren sie, es ging um Gott. Gott brauche ihn hier. Hans-Peter Schneider hatte soeben begonnen, Theologie zu studieren.

Das war neu in der Familie. Noch nie hatte Gott einen von ihnen gebraucht. Seine Mutter war Sachbearbeiterin. In Neuruppin war Hans-Peter Schneider aufgewachsen und zur Schule gegangen. In Orten wie Neuruppin war man früher religiös gewesen, weil sich das so gehörte. In der DDR gehörte sich das nicht mehr.

Von alldem, was bis eben noch Ausweis kleinbürgerlicher Wohlanständigkeit war – man grüßt seinen Nächsten, duckt sich vor der Obrigkeit und glaubt an Gott –, schien das Letztere auf einmal einen widerständischen Kern zu besitzen. Viele mit Jesus Christus sympathisierende Oberschüler wurden in den fünfziger Jahren von den Oberschulen verwiesen. Der Direktor von Hans-Peter Schneiders Gymnasium war ein ehemaliger, zum Kommunismus übergelaufener Theologiestudent und nach Art der meisten Konvertiten besonders unnachsichtig und glaubensstreng – ein Umstand, der sein streng atheistisches Gymnasium besonders viele Theologiestudenten hervorbringen ließ. Mitschuld daran war Pfarrer Achim Giering, der die „Christenlehre für Oberschüler“ gab. Natürlich in den Räumen der Gemeinde, in der Schule war Gottespropaganda undenkbar.

„Folge mir nach!“ – Führer aller Art rufen so, neue und alte, Gottes Stimme war nur eine unter ihnen. Wie soll man da entscheiden? Friedrich Nietzsche hatte vorgeschlagen, nur Marschbefehlen der Form „Folge dir nach!“ zu gehorchen. Doch erst die Gleichzeitigkeit beider Aufforderungen ist wirklich bezwingend. Und wohin hat diese Gotteseigensinnigkeit Hans-Peter Schneider gebracht?

Zuerst in eine Lichtenberger Kirche direkt neben der Stasizentrale, zu der er täglich quer durch die ganze Stadt fahren musste. Und nun, Anfang der Siebziger, also an diesen großen grauen Bahnhof, dessen erstes Gleis immer gesperrt war, weil von dort die Züge in den Westen fuhren. Und in einer Vorhalle stand alles, was der Reisende wissen musste, nur in kyrillischen Buchstaben, denn von hier fuhren auch die Züge nach Moskau. Der Weltwahnsinn im Bahnhofsformat. Eine große, breite Straße trennte Schneiders turmloses Gemeindehaus vom Bahnhof. Auf ihr übten die Panzer der NVA regelmäßig für ihre Paraden, was das Haus erbeben ließ. Das war aber nicht die einzige Besonderheit dieser Notunterkunft Christi, in der Hans-Peter Schneider mit seiner Frau Doris fast zwanzig Jahre seines Lebens verbrachte, in der seine Kinder groß wurden. Ihre Rückwand gehörte schon zum Mauerstreifen.

Der Theologe Paul Tillich hatte die Grenze einmal als den eigentlich fruchtbaren Ort der Erkenntnis bestimmt. Hans-Peter Schneider sah das auch so. Was erkennt man schon von Mitten aus? Andere Mitten? Besser, man ist ein Pfarrer von der Grenze für Menschen auf der Grenze, für die vom Rande, für die Sorgenkinder des Lebens. Wie sehr er das werden würde, konnte er nicht ahnen.

Anfangs hatte, wer zum Gottesdienst im Gemeindesaal wollte, noch einen Passierschein gebraucht. Ein Visum zu Gott gewissermaßen. Aber diesen kleinen Grenzverkehr haben Grenzer dann doch nicht durchgehalten.

Von seinem Dachgarten aus schaute Hans-Peter Schneider über die Mauer und die Spree hinweg auf die Brandmauer gegenüber im Westen. Die gesprayte Botschaft lautet heute, im Jahr 2009: „Die Grenze verläuft nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen dir und mir.“ Früher stand da: „Die Grenze verläuft nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen oben und unten.“ Beide Grenzen erkannte der Pfarrer nicht an. Die Ablehnung der letzteren teilte er mit den Marxisten. Und mit den Theologen der Befreiung Lateinamerikas. Und mit den Propheten des Alten Testaments, die er liebte. Ja, das Ideal des Sozialismus verstand er. Umso mehr war er gegen die Formen seiner Verwirklichung.

Dieser Staat ließ die Kinder schon wieder Halstücher umbinden? Er hatte die letzten Halstuchträger noch gut in Erinnerung. Er verbot seinem Sohn und seiner Tochter, Pionier zu werden. Aber welches Kind, das sein möchte wie die anderen, kann das verstehen? Jede Generation muss ihre eigenen Erfahrungen machen.

Hans-Peter Schneider gelang bald eine Art der Erziehung, die nicht allen Eltern zu Gebote steht: Er beeindruckte seine Kinder. Und viele andere auch. Bald kannten viele den Mann in Jeans und Pullover mit dem feinen, schmalen Gesicht. Das Wort „Geh doch mal zu Schneider!“ machte die Runde unter denen, die an die eigenen Grenzen stießen und an die des Staates. Was sollte jemand tun, wenn ihm die Staatssicherheit gute Zusammenarbeit vorschlug? Durfte man Nein sagen, ohne seine Stellung zu riskieren? Nicht nur einer stand mit der Frage „Was soll ich denen sagen?“ vor ihm. Da antwortete Hans-Peter Schneider: „Na, du sagst, dass du mich das auch schon gefragt hast.“ Gegen die Dekonspiration im Namen Gottes war selbst die Staatssicherheit machtlos.

Bald kamen vor allem jene Menschen auf der Grenze zu ihm, die einen Ausreiseantrag gestellt und darum ihre Arbeit verloren hatten und nun auf die Erlaubnis hofften, das Land zu verlassen, die Tag für Tag, Monat für Monat nicht eintraf.

Dabei fand der bekennende Dableiber das Weggehen grundfalsch. Und auch die Dableiber brauchten Hilfe. Dann kommt ihr eben zu mir!, sagte der Pfarrer den neuen Umweltgruppen wie der „Arche“, die bald nirgendwo mehr unterkamen. Der Gemeinderat tadelte seinen Pfarrer. Gerade er mit seiner Nicht-Kirche, die nicht mal richtig in der DDR lag. Musste er die Mächtigen so provozieren? In solchen Dingen ließ Schneider sich grundsätzlich nur von Gott beraten. Nicht umsonst unterhält dieser eine Dependance in jedem von uns. Sein Gewissen riet ihm auch, in der Gethsemanekirche zu predigen, während draußen die Polizei wartete, die nach den Mahnwachen immer wieder Menschen verhaftete.

Vielleicht entschloss sich Hans-Peter Schneider auch deshalb, im Herbst 1989 jenes seltsame Amt zu übernehmen, an das er Monate zuvor nicht im Traum gedacht hatte. Jeder Pfarrer ist ein Pressesprecher Gottes, nur dass er statt Verlautbarungen Offenbarungen verkündet. Aber jetzt, wusste er, war das zu wenig. So wurde Hans-Peter Schneider Pressesprecher von „Bündnis 90“. Nie klangen Verlautbarungen offenbarungshafter.

Und dann trat er von den Mikrofonen zurück und ging hinaus nach Brandenburg, in einen von diesen Orten, die plötzlich aus der Zeit fielen. Der Pfarrer von Dobbrikow war verantwortlich für sieben Dörfer. Die Ränder wandern. Kerstin Decker

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