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Berlin: Hartwig Eisel (Geb. 1947)

Jeder hat das Recht auf Kommunikation, auf welchem Weg auch immer

Er sprach. Er schrieb. Er las. Er lebte ganz und gar in der Welt der Laute. Er war, von Geburt an, hörbehindert.

Im Neunten Buch des Sozialgesetzbuches, an dessen Überarbeitung Hartwig Eisel mitgearbeitet hatte, heißt es: „Bedürfen hörbehinderte Menschen zur Verständigung mit der Umwelt aus besonderem Anlass der Hilfe anderer, werden ihnen die erforderlichen Hilfen zur Verfügung gestellt oder angemessene Aufwendungen hierfür erstattet.“ Seine Krankenkasse sah das anders.

Im März 2012 stürzte Hartwig Eisel in seiner Wohnung. Die Lähmung reichte vom Halswirbel bis hinab in die Beine.

Andere mussten ihm jetzt das Hörgerät einsetzen, mussten ihm jedes Buch halten, jedes Glas Wasser an die Lippen führen. Er brauchte jetzt die erforderlichen Hilfen, technische Mittel, die ihn wieder am Leben hätten teilhaben lassen. Seine Töchter wandten sich an die Krankenkasse und hörten diesen Satz: „Ihr Vater kann doch nichts mehr erfassen.“ Sie blieben schwerhörig, die verantwortlichen Bürokraten, vollkommen taub, begriffen nicht, dass er die Dinge eben nur nicht mehr mit den Händen fassen konnte. Sein Geist, seine Urteilskraft waren nicht gelähmt, auch wenn er nur noch die Augen bewegen konnte. Aber als die Krankenkassenleute endlich anfingen zu hören, war aller Mut schon aus ihm gewichen.

Wenn sie nicht hören können, bleibt ihnen doch wenigsten das Lesen und Schreiben, denken jene, die leichtfüßig durch die Welt der Geräusche gehen. Doch fällt den Hörgeschädigten gerade das schwer, sie denken in Bildern, nicht in Zeichen. Hartwig Eisel war darin eine Ausnahme: Er liebte die Wörter. Nach dem Abitur an der Margarethe-von-Witzleben-Schule, der ersten Berliner Schwerhörigenschule, studierte er Geschichte an der Humboldt-Universität und wurde im Anschluss Lektor bei einem Verlag.

Doch natürlich entgingen ihm die Schwierigkeiten der anderen nicht. Derer, die sich mühsam von einem geschriebenen Satz zum nächsten hangeln. Die auf die Gebärdensprache angewiesen sind und sie doch nur unzureichend beherrschen. Die sich letztendlich aus dem Leben zurückziehen. Jeder aber, so Hartwig Eisel, hat das Recht auf Kommunikation, auf welchem Weg auch immer. Dafür setzte er sich ein, darin war er unnachgiebig.

Sich in einen Raum zu schleichen, war ihm unmöglich. Er kam herein, groß und kräftig und aufrecht, und sagte geradeheraus, was ihm missfiel. Vielleicht stieß er diesen oder jenen vor den Kopf mit seiner Streitlust, seinem Zorn, wenn die Hörenden wieder einmal so taten, als seien sie stocktaub. Wie lang allein es gedauert hatte, bis die Gebärdensprache als vollwertige Sprache anerkannt wurde. Affensprache nannte man diese Art der Verständigung, mit der sich die Menschen über das Wetter, aber auch über die Kritik der reinen Vernunft austauschen können. Warum, fragte Hartwig Eisel, werden die Gehörlosen auf Biegen und Brechen in die Lautsprache gedrängt? Warum wird die Gebärdensprache nicht als fakultatives Fach an den Schulen eingeführt? In der DDR setzte er sich im Gehörlosen- und Schwerhörigenverband ein, später, nach der Wende, im Deutschen Schwerhörigenbund. Er gehörte zu den Mitbegründern von „unerhört e.V.“ und schrieb Texte für die Zeitschrift des Schwerhörigen-Vereins. Doch war sein Blick kein enger, der sich allein auf die eigenen Interessen richtete. Im September 2002 wurde er Behindertenbeauftragter im Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf.

Sein Leben unterschied sich nicht von dem jener, die sich kein Hörgerät ins Ohr setzen müssen. Er hatte recht und er irrte sich. Er erzählte Witze. Er hörte Musik. Er sprach Polnisch, Tschechisch und Russisch. Er fotografierte. Er war traurig. Er war glücklich. Und dann war es, als hätte jemand, vollkommen gedankenlos, den Stecker aus der Dose gezogen.

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