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Hartz-IV-Empfänger: "Warum hätte ich arbeiten sollen?"

Sie kennen Vattenfall nicht, ignorieren Post und freuen sich über Hartz IV: Wie ein Sozialprojekt versucht, junge Menschen zurück in den Alltag zu holen.

Melina hatte eine ziemlich einfache Vorstellung vom Leben. „Warum hätte ich arbeiten sollen?“, fragt sie. „Das Jobcenter bezahlte meine Wohnung, ich bekam Hartz und konnte faul zu Hause bleiben. Warum also hätte ich arbeiten sollen?“

Melina, 22, zupft etwas verlegen an ihrem schokobraunen Kopftuch. Ihren Körper hat sie in ein langes, weites Gewand gehüllt, als würde sie sich darin verstecken wollen. Von ihrem Bruder bekam sie regelmäßig Schläge, erzählt sie, und der Vater misshandelte die junge Araberin so heftig, dass sie schließlich mit 16 Jahren von zu Hause flüchtete. Melina ist nicht ihr wahrer Name, aber die Geschichte, die sie erzählt, die ist es schon.

Ohne Erziehung, ohne Schulabschluss und ohne Geld musste Melina allein in Berlin klarkommen. Sie landete im Heim, und mit der Zeit entdeckte sie die Vorzüge eines Sozialstaates und ließ sich bald rundum vom Jobcenter Tempelhof-Schöneberg aushalten.

„Irgendwann aber“, sagt sie, „haben die immer mehr und mehr Geldkürzungen vorgenommen, das fand ich nicht mehr so lustig.“ Melina rappelte sich also auf und landete schließlich etwas widerwillig im Büro von Pat Flatau. Der ist Leiter des Projekts „fair“. Vergangenes Jahr beauftragte das Jobcenter Tempelhof-Schöneberg das Projekt mit dem Pilotversuch für Arbeitslosengeldempfänger, die jünger als 25 Jahre sind. Fair will dort anknüpfen, wo die Jobcenter an Grenzen stoßen.

„Wir wollen ihnen zu nahe treten!“, sagt Pat Flatau energisch. Er will den jungen Menschen nichts schönreden. Pat Flatau trifft jede Woche auf arbeitslose Jugendliche, die eine so heftige Lebensgeschichte vorweisen, dass sie gar nichts mehr schocken kann. Das Problem ist nur: Sie haben zugleich keine Ahnung vom Leben und auch keine Perspektive.

Das Projekt kümmert sich um rund 80 Teilnehmer. Eine Gruppe besteht aus sechs bis sieben Mädchen oder Jungen. Geschlechtertrennung ist wichtig, denn viele Mädchen stammen aus Migrantenfamilien mit muslimischen Wertvorstellungen. Das Projekt setzt auf die emotionale Bindung zwischen Teilnehmer und Trainer. „Im Grunde besitzen sie überhaupt kein Selbstwertgefühl und verstecken das oft hinter einer großen Klappe“, erzählt Gruppenleiterin Barbara Binek. „Wenn sie das begriffen haben, können wir mit einem Lebensplan anfangen.“

Oft ist dieser erste Schritt furchtbar banal, aber doch so immens wichtig. Melina etwa blickte anfangs stets traurig und teilnahmslos drein. Der Grund, warum die junge Frau nie lachte, war jedoch nicht etwa die Lustlosigkeit, sondern der: „Sie schämte sich ganz einfach für ihre Zähne!“, sagt Binek. „Also schickte ich sie zu einem guten Zahnarzt.“

Gerade solche scheinbar kleinen Dinge sind wichtig. „Wir sind für diejenigen da, die keine Lebensenergie mehr haben und selbst einfache Sachen nicht mehr in den Griff bekommen“, sagt Flatau. Die Gründe dafür seien vielfältig: „Jedem von uns können im Leben Ereignisse widerfahren, die einen einfach umhauen.“ Wer an diesem Punkt angekommen ist, braucht zunächst wieder eine Perspektive. „Wir setzen uns erst mal hin und analysieren: Was will der junge Mensch denn überhaupt? Und dann machen wir einen realistischen Plan, wie er diesem Ziel so nah wie möglich kommt“, sagt Flatau und lächelt kurz, „selbst wenn er Kamelreiter in Arabien werden will“.

Melina musste gedrängt werden, sehr sogar. Für sie war die Maßnahme zunächst nur ein Vermerk in ihrer Akte, damit sie wieder mehr Geld bekommt. Sie versäumte Besprechungen und Termine, ging nicht ans Telefon und wollte ihre Wohnungstür nicht mehr öffnen. Die junge Frau wollte faktisch untertauchen. Doch Gruppenleiterin Barbara Binek ließ nicht locker: „Ich habe so lange herumgenervt, bis ich sie endlich hatte!“

Sechs Kernpunkte gibt es, die angepackt werden: ein Lebensordner, ein Haushaltsplan, Schuldenregulierung, Strukturierungshilfe, Stärken- und Schwächenanalyse und das Erstellen kompletter Bewerbungsunterlagen. Viele sind in der Schuldenfalle, Mahnungen landen ungeöffnet im Müll, Anwaltsdeutsch verstehen sie sowieso nicht. „Ich habe von Zeit zu Zeit sogar Leute, die noch niemals was von Vattenfall gehört haben, geschweige denn, dass man sich für den Strom anmelden muss“, erzählt Pat Flatau.

Die Teilnehmer wissen oft auch nichts von Formalien für Bewerbungsmappen, haben keine Ahnung, wo ihre Zeugnisse sind, haben wichtige Verträge und Dokumente irgendwo verstreut. „Wir tragen sie zusammen oder besorgen sie neu. Alles landet dann im neuen Lebensordner“, sagt Flatau, „und – zack! – liegt nichts mehr rum“. Und genauso unliebsam, wie sie ihre Dokumente behandeln, verhalten sich auch viele der Teilnehmer. Höfliches Benehmen, Pünktlichkeit oder Anstandsregeln kennen viele nicht.

In den Einzel- und Gruppensitzungen des Projektes werden vor allem die sozialen Kompetenzen geschult. Nach einem halben Jahr seien einige Teilnehmer zu regelrechten Aufsteigern herangewachsen, meint Barbara Binek: „Sie sind unglaublich stark, haben Ideen und Visionen. Einige verlassen uns mit einem Ausbildungsplatz in der Tasche.“

Im Oktober endet der Vertrag mit dem Jobcenter Tempelhof-Schöneberg. Es ist noch ungewiss, ob er verlängert wird. Aber die positiven Auswirkungen zeigen sich in der besseren Vermittlungsfähigkeit der Jugendlichen, meint Projektleiter Flatau. „Die Stimmung scheint also recht positiv – und wenn schon! Ich bin einfach Optimist. Man kann eben nur weitergeben, was man selbst wirklich besitzt.“

Louisa Hantsche

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