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Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs ist der Andrang vor den Jobcentern der Stadt groß.

© Kai-Uwe Heinrich

Hauptstadt-Armut: Trotz Wirtschaftswachstum - Zahl der Hartz IV Empfänger weiter hoch

Trotz der wachsenden Wirtschaftsleistung bleibt Berlin weiter die Hartz-IV-Hauptstadt. Experten vermuten, dass dies auch am Zuzug vieler Bedürftiger liegt. Nachweisen lässt sich das aber nur schwer.

Berlin bleibt Hartz-IV-Hauptstadt – dabei wächst seit Jahren die Wirtschaftsleistung stärker als im Bundesdurchschnitt. Seit 2007 sind mehr als 120.000 sozialversicherungspflichtige Jobs in der Stadt entstanden. Die Zahl der Hartz-Empfänger hat das aber kaum verändert. In der Industrie- und Handelskammer (IHK) oder dem Deutschen Institut für Wirtschaft wird deshalb kritisch nach der sozialen Struktur der nach Berlin ziehenden Menschen gefragt. Bisher ging man davon aus, dass – neben den nach Berlin zum Studium kommenden Menschen – es vor allem gut ausgebildete Berufstätige sind, die schon mit einem festen Job an die Spree ziehen. Arbeitslos, so die häufig vertretene These, seien hauptsächlich jene Berliner, die gering qualifiziert sind, keine Arbeitsplatzchancen haben und sozial immer weiter abgehängt werden. Fachleute zweifeln nun daran. Der unverändert hohe Anteil von Hartz-IV-Beziehern könne auch ein Ergebnis eines „Sozial-Tourismus“ sein, wird in Wirtschaftskreisen vermutet.

Der Effekt ist schwer nachzuweisen. Es fehlen die Zahlen. Karl Brenke, Arbeitsmarktforscher beim Deutschen Institut für Wirtschaft, sieht zumindest Indizien dafür, weil trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs in der Hauptstadt die Zahl der Hartz-IV-Empfänger „praktisch konstant bleibt“. In Berlin habe „die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung überdurchschnittlich zugenommen, die Arbeitslosigkeit aber hat unterdurchschnittlich abgenommen“, hat Brenke festgestellt: „Das gilt erst recht für jüngere Hartz-IV-Bezieher bis zu 25 Jahren, wo es gegen den bundesdeutschen Trend überhaupt keinen Abbau gegeben hat.“

Brenke macht vier Gründe dafür aus, warum es beschäftigungslose Menschen nach Berlin ziehen könnte. Hier könne man immer noch weit preiswerter leben und wohnen als in anderen Großstädten. „Berlin ist nicht nur für Künstler anziehend, sondern auch für Lebenskünstler“, sagt Brenke. Man lebe hier anonymer als in kleineren Städten und falle nicht so sehr als Hartz-IV-Empfänger auf. Außerdem „schaut man in Berlin nicht so genau hin“, glaubt Brenke. „Hartz-IV-Empfänger werden anderswo stärker gefordert“, weil in Bundesländern mit inzwischen deutlich gesunkener Arbeitslosigkeit die Hilfeempfänger von Arbeitsagenturen intensiver betreut würden. „Je geringer die Arbeitslosigkeit, desto höher ist der Druck auf die Arbeitslosen.“

„Wie viele Menschen nach Berlin gezogen sind und sich danach hier arbeitslos gemeldet haben, geht aus der Statistik nicht hervor“, sagt der Sprecher der Regionaldirektion Berlin der Arbeitsagentur, Olaf Möller. Die sagt nur aus, dass es in Berlin im Oktober 2011 rund 427.000 arbeitsfähige Hartz-IV-Bezieher gab – knapp 25.000 weniger als im Herbst 2007. Das sei den besseren Chancen am Arbeitsmarkt geschuldet, sagt Möller, gibt jedoch zu, dass der Rückgang nicht so groß sei, „um in Euphorie zu verfallen“.

Die Arbeitsagentur setzt nun auf das Projekt „Berliner Joboffensive“. In allen zwölf Jobcentern kümmern sich seit Mitte 2011 über 650 Vermittler vor allem um „marktnahe Kunden“ – Leistungsbezieher, die eine Ausbildung, einen Schulabschluss oder gar Uniabschluss haben. Mit gutem Ergebnis: Nach fünf Monaten haben bereits 6000 Menschen wieder eine sozialversicherungspflichtige Arbeit. Zudem verhängen die Jobcenter nun deutlich mehr Sperren.

"Berlin ist eben auch für Hartz-IV-Empfänger eine attraktive Stadt"

Bis in die jüngste Vergangenheit war das anders. Die Jobcenter machten wenig Druck und insbesondere die Linkspartei hatte in den vergangenen Jahren dafür gesorgt, dass in Berlin der Mietzuschuss für Hartz-IV-Empfänger großzügiger gehandhabt wurde als in anderen Städten. Die Bundesregierung musste vor Gericht erzwingen, dass in Berlin die Miethöhe bereits nach einem halben Jahr Hilfebezug überprüft und notfalls angepasst wird – und nicht erst nach einem Jahr. Seitdem werden mehr Hilfebezieher aufgefordert, sich eine billigere Wohnung zu suchen.

„Berlin ist eben auch für Hartz-IV-Empfänger eine attraktive Stadt“, sagt IHK-Sprecher Bernhard Schodrowski. Man könne nicht ausschließen, dass Menschen hierher ziehen, weil sie sich weniger kontrolliert fühlen. „Menschen, die sich damit eingerichtet haben, mit wenig Geld zu leben, haben es in Berlin ungleich leichter als in anderen Großstädten“, sagt Schodrowski. Einige hätten sich „im Hartz-System eingerichtet“. Die IHK fordert, diese Menschen gezielter für den ersten Arbeitsmarkt zu qualifizieren – insbesondere wegen des zunehmenden Fachkräftemangels. SPD und CDU in Berlin hätten sich im Koalitionsvertrag ebenfalls auf dieses Ziel verständigt.

Bei Arbeitssenatorin Dilek Kolat (SPD) sieht man keinen Anreiz, dass Hartz-Bezieher nach Berlin ziehen, weil die Unterstützung bundesweit einheitlich ist. Der Arbeitsmarkt-Experte der CDU, Professor Niels Korte, setzt darauf, Hartz-IV-Bezieher schneller in Arbeit zu bringen; auch durch den von Rot-Schwarz geforderten besseren Betreuungsschlüssel in den Jobcentern. „Es gibt hohe Spielräume der Aktivierung, die nicht genutzt werden“, sagt Korte – was man als Kritik an der rot-roten Vorgängerregierung verstehen kann.

Notwendig sei, den Menschen schneller und direkter als bisher ein Arbeitsangebot zu machen, sagt Korte. Auch der frühere FDP-Abgeordnete Volker Thiel ist überzeugt, dass die Jobcenter grundsätzlich schneller und mehr Arbeitsangebote machen und bei Ablehnung „konsequenter sagen müssen, was das für ihre Unterstützungsleistung heißt“.

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