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Sammeln und schreiben. Regina Scheer stöbert gern durch Überbleibsel aus Wohnungsauflösungen.

© Sven Darmer

Haus der Geschichten in der Utrechter Straße: Wenn Gott im Wedding wohnt

Verfolgte, ihr gemeinsames Versteck, das Leben nach dem Krieg: Mit „Gott wohnt im Wedding“ hat Regina Scheer einen Generationen-Roman geschrieben.

Regina Scheer betrachtet den Krempel vor einem Wohnungsauflösungs-Geschäft unweit des Leopoldplatzes. Sie schaut in die Kisten am Wegrand und durch die Scheiben des Ladens – sucht Geschichten. Hier in der Utrechter Straße steht im Roman das Haus, das die Leben zusammenhält, die sich in ihrem jüngsten Buch „Gott wohnt im Wedding“ überlappen.

Sie schreibt über verfolgte Juden, Roma und Sinti, über jene, die sie damals versteckt haben, und über die Nachkommen der Überlebenden, die nach Berlin und in die Utrechter Straße zurückkehren.

Der Roman ist nicht nur für Weddinger ein wertvoller Fund deutscher Zeitgeschichte. Authentisch über viele Jahrzehnte hinweg geschildert, wirkt es, als seien die Geschichten der Protagonisten genauso geschehen. Doch die Geschichte ist im Einzelnen nicht so wirklichkeitsgetreu, wie es scheint. „Das Haus aus dem Buch gibt es so nicht“, stellt Scheer klar, dort, wo es sein soll, ist ein Spielplatz.

Scheer kennt zu allen Ereignissen eine Person, die es erlebt hat

Zu dem Roman inspiriert hat Scheer ein Haus in der nahegelegenen Groninger Straße, wo sich Juden der Widerstandsgruppe Chug Chaluzi versteckten.

Die Lebensgeschichten der Protagonisten wirken so glaubwürdig, weil Scheer sie fast dokumentarisch erzählt. Auch wenn die Biografien nicht genau wie von ihr beschrieben existiert haben, kenne sie zu all den Ereignissen, eine Person, die es erlebt habe.

Und viele Orte, die im Buch vorkommen, gibt es tatsächlich. Das Café „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ an der Nazarethkirche etwa. Dort spricht Leo, der im Jüdischen Krankenhaus in Wedding zur Welt kommt, sich im Haus der Utrechter Straße vor den Nazis versteckt und später nach Israel auswandert, im heutigen Berlin mit seiner israelischen Enkelin Nira über die Vergangenheit.

Wedding ist Schauplatz eines Generationenkonfliktes, der sich durch das Buch zieht. Nira kehrt nach dem Berlin-Besuch mit Leo nicht zurück nach Israel zurück, sondern bleibt. Der betrachtet ihre Entscheidung als Verrat, wundert sich, dass viele junge Israelis heute nach Berlin wollen.

Das Bedürfnis, Realität in der Literatur zu suchen

Auch Scheers vielgelobter Roman „Machandel“ besteht teils aus realen Begebenheiten, „Ereignissen, die irgendwann einmal passiert sind“, sagt sie. Scheer fügte sie aber neu zusammen. Leser aber, erwarten oft, dass das Buch sich in die Realität übersetzt. Das zeigt die Tatsache, dass viele nach Mecklenburg fahren, um dort das fiktive Dorf Machandel zu finden, das sie beschreibt.

„Es gibt ein Bedürfnis, Realität in der Literatur zu suchen“, sagt Scheer nachdenklich, als sie gegenüber dem Spielplatz in der Utrechter Straße auf einer Tischtennisplatte sitzt. „Aber Literatur ist eine andere Art von Realität.“

[Regina Scheer: Gott wohnt im Wedding. Penguin Verlag. 416 Seiten. 24 Euro.]

Das zeigt sich auch darin, dass das Mietshaus in ihrem Roman „Gott wohnt im Wedding“ sprechen kann. „Die meisten denken, ein Haus sei nichts als Stein und Mörtel, totes Material“, sagt es , bevor es beginnt zu berichten, wie seine Bewohner es mit Gegenständen füllen – und mit Leben. Scheer erzählt wie sie als Kind in der Früh zur Schule fuhr und vor allen anderen da war: „Ich war mit dem Haus allein und hatte das Gefühl, ich und das Haus unterhalten uns noch ein bisschen.“

Damals, als sie mit dem Haus sprach, gab es Mauer und DDR noch. 1950 geboren, wuchs die Schriftstellerin in Ost-Berlin auf. „Wir hatten die Hoffnung, die Gesellschaft zu verändern, einen demokratischen Sozialismus zu schaffen“, sagt sie. Daraus sollte nichts werden. Scheer zitiert den DDR-Schriftsteller Thomas Brasch, um die gebrochenen Hoffnungen nach der Wende zu beschreiben: „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“

Sie sucht ihre Geschichten nicht nur in den großen Tragödien

Auch ihr Roman spiegelt in den Hoffnungen und Schicksalen der Protagonisten deutsche Geschichte – von der Zeit des Nationalsozialismus, über die Wende bis heute. Vor allem jene der Juden, der Roma und der Sinti. Sie waren Verfolgte, mussten und müssen für ihren Status in der Gesellschaft kämpfen und erzählen Geschichten vom Rande der Gesellschaft.

Aber Regina Scheere sucht ihre Geschichten nicht nur in den großen Tragödien der Geschichte, sondern auf den Straßen des Wedding. Nahe dem Utrechter Platz betrieb sie ehrenamtlich ein Erzählcafé, 2008 bis 2016. Sie lud Menschen ein, die ihr über den Weg liefen: eine kurdische Frau, die am Leopoldplatz in einem Café arbeitete, einen Frisör, die Direktorin der nächstgelegenen Schule.

„Ich bin einfach auf die Menschen zugegangen.“ Wenn sie mit ihrem langen roten Mantel durch die Straßen läuft, scheint es, als ob sie ihr gehörten, man merkt: Scheer ist in Wedding zuhause.

Von Menschen, die fliehen, und Wohnungen, die sich verändern

Und an diesem Zuhause schätzt sie die Mischung der Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern. Scheer betont, dass Wedding auch für viele Gastarbeiter steht, die dorthin zogen – an einer Ecke der Utrechter Straße liegt ein arabischer Lebensmittelladen, gegenüber ein türkischer Imbiss.

Es ist außerdem ein Bezirk in Bewegung. Und darum geht es eben auch in „Gott wohnt im Wedding“. Das Buch handelt von Menschen die fliehen, Wohnungen, die sich verändern und auflösen, Menschen, die ohne Obdach sind, die kommen und gehen. Es wirkt beim Lesen als wären die 416 Seiten längst nicht genug gewesen, um alle Geschichten festzuhalten, die hier auf den Straßen liegen. Fängt der Wedding einmal an zu erzählen, hört er nicht wieder auf.

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