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Berlin: Heidetraut Pasch (Geb. 1943)

Warum ein Teufel? Weil sie da war und die andere nicht mehr?

Eine Gruppe joggt durch den Park, 13 Männer, 2 Frauen. Die Männer laufen dicht beieinander, die Frauen in einem Abstand von fünf Metern hinterher. Die Männer spucken einmal pro Minute zischend vor sich auf den Boden. Die Frauen hüpfen rechts und links an den Sportlermalen vorüber. Die Gruppe verlässt den Park, muss eine Straße überqueren. Die Ampel ist rot. Die Männer stoppen widerwillig, ziehen dann zackig die Knie in die Höhe, starren dabei auf ihre Chronometer. Die Frauen lehnen am Ampelmast, schauen einer aufgescheuchten Taube nach.

„Es reicht“, sagt Heidi und gründet einen Frauenlauftreff. 1988.

Die Frauen dehnen zunächst ihre Muskeln, laufen dann in verschiedenen Gruppen, die Stärkeren getrennt von den Schwächeren, dehnen sich wieder. Die Männer stehen mit verschränkten Armen in einer Ecke und feixen. Erzählen sich noch einmal die Geschichte von der Frau, die mit ihnen durch den Tiergarten rannte, das Tempo nicht halten konnte, zurückblieb und sich verlief. Lautes Lachen dröhnt aus der Ecke. Die Frauen lächeln nachsichtig. Die Männer stellen ihre Uhren auf Null, hasten los. Der erste bemerkt ein Reißen im Oberschenkel, ein zweiter humpelt zurück. Die Frauen schauen milde, laden ihn höflich ein zu ihren Aufwärmübungen.

Mit 45 Jahren ist Heidi bereit für ihren ersten Berlin-Marathon, mit 50 nimmt sie ein Flugzeug nach New York, zieht sich im Hotel ein T-Shirt mit ihrem Namen darauf über und läuft mit Tausenden von Staten Island über Brooklyn, Queens, die Bronx nach Manhattan, an den Straßen winken die Menschen, rufen „Heidi go, go“, ein riesiges Fest, Heidi läuft, rennt, fliegt, seit langer Zeit hatte sie diesen Traum.

Vor langer Zeit hielt die Welt für einen Moment an. Versteinert steht Heidi vor ihrer Mutter, die jüngere Schwester ist gestorben, vierjährig, an Typhus. Dieser Satz, dieser eine Satz prallt gegen ihren Kinderkopf, kriecht dann tief in ihn hinein: „Den Engel hat mir der liebe Gott genommen, dich Teufel hat er mir gelassen.“ Warum ein Teufel? Weil sie da war und die andere nicht mehr? Zu einer Gastfamilie nach Morschenich bei Aachen muss der zarte zehnjährige Teufel, zu einer kinderlosen Gastfamilie, im Nachkriegsdeutschland keine Seltenheit, dort, weit weg, wird man satt, die Kleider haben weniger Löcher, die Eltern warten, wenn man nach Hause kommt. Herr und Frau Breuer sind ein Glück für Heidi, sie bleibt sechs Jahre, kehrt mit 16 wieder zurück nach Berlin, beginnt eine Lehre als Bäckereiverkäuferin. Der Bäckermeister schreibt die Worte „fleißig“ und „strebsam“ in ihre Beurteilung, auf dem Abschlusszeugnis steht ein „sehr gut“. Heidis Lohn ist gering, um mehr zu verdienen, wechselt sie häufig die Arbeitsstellen. In einem Obstladen faltet sie am Tage Tüten für Kohl und Kartoffeln, geht am Abend tanzen, bis zwei Uhr in der Nacht, fährt um drei mit dem Chef zum Großmarkt, putzt dann das Gemüse, ordnet die Kisten, hat nicht eine Minute geschlafen, die junge Frau, die leben möchte. Auf einem Faschingsfest lernt sie Wilfried kennen. Ein weiteres Glück. Und die beiden Töchter, Martina, Carola. Schon schwanger klettert sie noch hoch auf die Leiter, streicht die Wände der neuen Wohnung.

1972 sagt Heidi zu Wilfried: „Ich habe mich bei der Berliner Bank beworben und sie haben mich genommen.“ Wilfried staunt: „Dafür biste doch gar nicht ausgebildet.“ Er schaut sie an, spürt Stolz, Bewunderung, Liebe.

2006. Der Krebs. Die Frauen der Laufgruppe sind da, jeden Tag. Der Pfarrer kommt. Doch Heidi bleibt am Leben. Die Blutwerte werden besser. Sie steht wieder auf. Trainiert sogar. Eine 74-jährige Dame fragt: „Wer ist denn hier der Kranke?“

Und Rom. Einmal möchte sie nach Rom. „Das schaffen Sie“, sagt der Arzt. Sie schafft es. Tatjana Wulfert

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