zum Hauptinhalt
Unser Autor Helmut Schümann steht in der Morgendämmerung mit Rucksack an einer Straße in Berlin.

© Mike Wolff

Heimatruf: Walking home for Christmas

Staus und überfüllte Züge: Vor Weihnachten fahren die Menschen "heim". Doch was ist das eigentlich - Heimat? Ein Ort? Ein Gefühl? Kann man sie erfahren? Oder muss man sie nicht vielmehr erlaufen, wie einst Josef mit Maria? Unser Autor unternimmt eine Wanderung im Advent.

Ich habe das nie erlebt: "Driving home for Christmas, with a thousand memories." So wie es Chris Rea besingt, wie es in diesen Tagen tausende Male aus allen Kanälen dudelt. Wozu auch hätte ich zu Weihnachten nach Hause fahren sollen? Zu welchem Zuhause? Als ich damals aus dem Elternhaus ging, waren die Eltern schon vorher gegangen. Weggestorben waren sie während meines Abiturs, erst der Vater, dann die Mutter drei Wochen später. Ich erzähle das jetzt mal so lapidar, es ist ja auch schon fast vierzig Jahre her. Ich bin jetzt 57 Jahre alt, ich habe meinen Frieden damit gemacht.

"Driving home for Christmas": Jetzt fahren sie wieder. Berlin erlebt in diesen Tagen wie alle Jahre die Abreise. Die Stadt besteht ja nur noch zu einem Drittel aus gebürtigen Berlinern. Ein Großteil der zwei Drittel fährt nach Hause. Jeden erfasst zum rührigsten Fest das Heimatgefühl. Mal wieder zu Hause sein, mal wieder Kind sein, sorgenlos. Weil die Mutter, der Vater, die Sorgen übernehmen. Möglicherweise schlafen die Fortgezogenen im alten Kinderzimmer, das natürlich längst umfunktioniert wurde, in dem aber immer noch ein Bett steht für die Tochter, den Sohn. Und an Heiligabend wird die Mutter das Glöckchen läuten, so wie sie es immer getan hat, wenn die Geschenke unter dem Baum lagen und die Bescherung begann.

Ich habe da nie gestanden, damals, an Drei Linden, von wo aus in den 60ern selbst die emanzipiertesten Revoluzzer nach Hause trampten. Da war ich noch viel zu klein und die Eltern noch nicht tot. Ich habe auch später in Bonn, München, Hamburg, Berlin auf keinen Zug gewartet, der mich in die Kindheit zurück bringt. An die Wiege, an die Krippe. Möglichst schnell, möglicherweise auch deswegen so schnell, um es schnell hinter sich zu bringen. Ich habe auch auf keinen Flieger gewartet. Ich habe das nie erlebt, dieses Weihnachtsding. Diese eigene Suche nach dem Stern von Bethlehem.

Jetzt suche ich ihn. Da, wo ich hin will, ist niemand mehr. Die Schwester, sie ist drei Jahre älter, lebt mit ihrer Familie im benachbarten Köln. Die Waisen von damals haben ein sehr inniges Verhältnis. Vielleicht gerade weil sie die Waisen von damals waren, vielleicht weil die Zeit, bevor sie Waisen wurden, auch nicht gerade herzenswarm war. Vielleicht läuft sie die letzte Etappe mit. Das wäre schön.

Ja. Laufen. Ich gehe zu Fuß. Vom Askanischen Platz in Berlin. Da arbeite ich. In Berlin lebe ich. Ich gehe jetzt zurück in meine Kindheit. Nach Bilk, einem Stadtteil von Düsseldorf, in dem ich aufgewachsen bin bis zum Tod der Eltern. Bilker Allee 136, Ecke Elisabethstraße, Zweiter Stock rechts, Telefon: 0211 342249. Das Telefon war noch aus Bakelit, hatte eine Wählscheibe, erstaunlicherweise habe ich die Nummer immer noch im Kopf.

Laut Lukas ist seinerzeit der Zimmermann Josef mit der schwangeren Maria, die aber nicht von ihm schwanger war und auch von keinem anderen, wegen einer Volkszählung zu Fuß nach Josefs Geburtsort Bethlehem gegangen. Ich bin nicht sehr religiös, eigentlich bin ich es gar nicht. Wahrscheinlich ist die Geschichte auch frei erfunden von Lukas, zumindest, was die genaueren Umstände der Schwangerschaft angeht, bin ich sogar fest überzeugt davon, dass sie frei erfunden ist. Aber es ist trotzdem eine schöne Geschichte. Und deswegen gehe ich zu Fuß. Ich Esel. Den habe ich nämlich nicht dabei. Und eine hochschwangere Frau auch nicht. Ich gehe allein.

1. Berlin - Werder - Lehnin. Minus 3 Grad, aber trocken

Ein paar Jahre früher nur, nur ein paar Jahre, und ich müsste nicht vom Askanischen über den Adenauerplatz raus Richtung Wannsee laufen, um an den Ort meiner Wiege zu gelangen. Ein paar Jahre früher nur, und ich hätte lediglich zur Chaussee straße in Mitte gehen müssen. Da ist der Vater aufgewachsen, exakt in dem Haus, in dem später Wolf Biermann gelebt hat. Der Vater hat früh rüber gemacht, lange vor dem Mauerbau. Andererseits: Wäre er geblieben, hätte er meine Mutter wahrscheinlich nie kennengelernt, und möglicherweise wäre ich dann nie ins Laufen gekommen.

Ich war mal in dem Haus in der Chausseestraße. Habe dort die Mutter meines Vaters besucht, nominell also meine Oma. Aber die habe ich außer diesem Besuch damals nach dem Tod der Eltern nie persönlich gesehen. Danach auch nicht mehr. Wir saßen in ihrer dunklen Küche, ich habe ihr erzählt vom Tod ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter, also meines Vaters und meiner Mutter. Sie hat gesagt, oh, das ist ja traurig, und mich dann, damals war die Chausseestraße noch in Ost-Berlin und der DDR, gefragt, ob ich Westgeld hätte, das ich ihr geben könnte. Also, ich war noch nicht sehr alt, noch nicht sehr erwachsen, ich hatte gerade mein Abitur gemacht und dabei meine Eltern verloren.

Die Oma mütterlich habe ich nie kennengelernt, oder ich kann mich nicht erinnern. Es gibt ein Foto, da sitze ich mit zwei oder drei Jahren bei ihr unter dem Küchentisch. Auf dem Foto sieht sie aus, wie man sich eine Oma wünscht, Dutt, Küchenschürze, die Hände und Unterarme mehlig, wahrscheinlich hat sie mir gerade etwas gebacken. Aber dann ist auch sie gestorben.

Früher, zu Weihnachten meiner Kindheit, hat die Berliner Oma immer Pakete geschickt. Da waren Krippen aus Thüringen drin, nie ein Brief an mich, nie einer an Claudia, die Schwester, ich kann mich nicht erinnern. Das Verhältnis zwischen Vater und meiner Oma war wohl nicht so gut, Genaues weiß ich nicht, war zu jung, danach zu fragen, mich dafür zu interessieren.

Das fällt mir ein, jetzt, da ich unter dem S-Bahnhof Grunewald hindurch in den Grunewald gehe. Und auch, dass diese Wanderung zurück in die Kindheit ziemlich trist anfängt, wenn sie mit solchen trüben Gedanken beginnt. Aber was soll ich machen, so war es nun mal.

Am Wannsee wartet Achim, der Freund, der mir das Navigationsgerät eingerichtet hat, das aber nicht funktioniert. Er fährt mich ein paar Meter, was mir aber jetzt kein schlechtes Gewissen bereitet. Das Navi kriegt er aber auch nicht in die Gänge. Was ich sagen will: Es geht nicht so lustig los. Und einen Stern sehe ich auch nicht.

Doch. Einen sehe ich. Ein Zeichen zumindest, das meine Laune hebt. Das hängt in Lehnin im Schaufenster eines Friseurladens, der - das sagt es mir - auch "Nasenloch stechen" anbietet. Ich meine, wenn fast 25 Jahre nach der Wende auch die Lehniner sich Nasenlöcher stechen lassen können, dann finde ich das sehr adventlich und sehr zukunftsorientiert. Ich glaube aber, dass ich niemals auf meine Wunschzettel "Nasenloch" geschrieben habe. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte ich Nasenlöcher, damals in Düsseldorf, von Anfang an.

2. Lehnin - Drewitz. Plusgrade. Leichtes Nieseln

Der örtliche Radiosender scheint informiert zu sein, dass ich unterwegs bin. Das kann schließlich kein Zufall sein, was im Frühstücksraum des Hotel Markgraf in Lehnin aus dem Radio schallt: Die Beach Boys, "Sloop John B": "Well I feel so broke up, I wanna go home..." Abgesehen davon, dass ich noch gar nicht so fertig bin, gehe ich ja schon. Will ohnehin nicht mehr hierbleiben. Gestern Abend haben im Gastraum noch Burschenschaftler getagt. Ältere Herren, farbentragend - und schlagend, wie ich später erfuhr. Aber ohne Schmisse. "Na, da müssen Sie mal unsere Gegner sehen." Brüllendes Gelächter im Männerbund. Die Gattinnen tafelten im Übrigen am Nebentisch.

Offensichtlich gibt es noch Welten, in denen die Welt noch in Ordnung ist. Im Osten hatte ich keine Burschenschaftler erwartet. "Wir sind ja auch alle aus dem Westen, in der DDR gab es keine Burschenschaftler." In der DDR war nicht alles schlecht, denke ich und verabschiede mich. I wanna go home.

Bis Hameln will ich auf dem Radweg Berlin - Hameln laufen. Die Strecke Richtung Berlin ist mit dem kleinen Brandenburger Tor ausgewiesen, der Weg nach Hameln natürlich mit dem Rattenfänger. Allerdings nicht sehr gut, man kann sogar sagen, sehr schlecht und in Brandenburg manchmal gar nicht. Ich laufe nach Michelsdorf, dann nach Oberjünne und in Cammer will ich Rast machen. Der Weg verläuft entlang der Landstraße. Menschenleer. In Michelsdorf gibt es kein Café für einen Kaffee, in Oberjünne auch nicht. Es gibt überhaupt nichts, es fährt auch kein Auto. In Cammer gibt es ein Schild, das Cammer als "schönes produktives Dorf" preist. Aber der Gasthof will heute nicht produzieren, er hat geschlossen. Dafür putzt eine Frau Fenster und weist mir den Weg nach Rottstock. Nach Stunden komme ich in Rottstock an. Dort gibt es Menschen. Die erklären mir, dass dies Rottstock bei Brück sei, ich aber zum Gasthof Haug am Radweg wolle, der sei aber in Rottstock bei Görzke. Es ist bereits dunkel, als ich im richtigen Rottstock ankomme. Aber der Gasthof ist leicht zu finden. Es ist nämlich das einzige Haus, in dem Licht brennt in diesem dunklen Landstrich. Mir dämmert langsam, was Herbergssuche ist.

Esel wären gut gewesen

Die sehr nette Wirtin des Gasthofs Haug sagt mir in der Früh: "Laufen Sie nicht über den Fahrradweg nach Buckau, laufen Sie gleich über Dretzen nach Dörnitz, über Lübars nach Möckern. Aber Möckern ist hässlich." Das ist ein guter Tipp, ich spare ein paar Stunden. Bis Dretzen treffe ich: keinen Menschen. Ich sehe in Dretzen: keinen Menschen. Ich laufe raus: Da ist auch keiner. Nur ein Weg, der sich unbeschildert dreiteilt, ich wähle einfach den mittleren. Das erste Schild, das ich dann sehe, erklärt mir, dass rechts und links meines Weges munitionsbelastetes Gebiet ist und Lebensgefahr im Wald besteht. Ich nehme mir vor, diese Tatsache bei einer möglicherweise dringend benötigten Pause zu berücksichtigen. In Dörnitz endlich sehe ich Menschen. Da ist ein Geschäft, Tante Emma-Läden sagte man bei uns dazu in meiner Kindheit, hier sagt man Konsum. Es ist einerseits sehr schön, dass man durch das kleine Deutschland stundenlang laufen kann und keinem Menschen begegnet. Aber nun weiß ich ja, dass es in Dretzen, Drewitz, Dörnitz Menschen gibt, dort stehen Häuser, sie sind bewohnt. Und dann ist so ein Gang durch unbelebte Gegend sehr trostlos.

Und der alte Mann, der den Konsum von Dörnitz führt, will nächstes Jahr schließen. Es lohne sich nicht mehr, erzählt er, die Großeltern hätten den Laden vor über hundert Jahren aufgebaut. Ich werde jetzt langsam auch depressiv, dabei bin ich schon in Sachsen-Anhalt, dem Land der fröhlichen Frühaufsteher. Vor dem Laden erklärt mir ein jüngerer Mann, ich solle eine Dreiviertelstunde auf den Bus nach Drewitz warten. Gleichzeitig sagt er mir, dass ich auch über den Hügel gehen könne, dann wäre ich in einer halben Stunde in Drewitz, aber das sei ja wohl völlig bescheuert, über den Hügel zu gehen. Überhaupt sei gehen "ja voll für’n Arsch, aber ihr Wessis habt ja ’ne Meise". Ich will aber jetzt nicht diskutieren, dass eine halbe Stunde gehen doch sinnvoller ist als eine Dreiviertelstunde warten. Auch trägt der junge Mann Thor Steinar. Ich gehe also zu Fuß nach Drewitz. Drei Esel stehen auf einer Koppel am Wegesrand, wollen mir aber nicht tragen helfen. Esel wären gut gewesen.

In Drewitz ist auch: nichts. Außer ein paar jungen Männern, die einen anderen Modegeschmack haben als ich. Also ich würde nicht mit rasiertem Schädel rumlaufen wollen, mit Stiefeln, wie sie Fallschirmspringer tragen, mit Jacken, die aussehen, als seien sie aufgeblasen. Aber ich will in Drewitz nicht diskutieren mit ein paar Neonazis. Zumal einer mir nachruft "Heim ins Reich, Alter?", was ja fast schon witzig ist. Oder soll ich ihm meine Wanderstöcke wegen des "Alter" um die Ohren hauen?

3. Schönebeck - Langenweddingen - Oschersleben. Plusgrade, toll. Aber es kübelt vom Himmel

Ich mache einen Sprung. Es gibt Tage auf so einer Wanderung in die Kindheit, die sind wie manche Tage der Kindheit oder der Jugend. Nichts los. Öde. Phasen. Langeweile. Dass diese Tage der Jugend keine Tage der Langeweile waren, sondern Tage der Reifung, weiß der Wanderer heute. Die öden Tage der Wanderung sind ja auch keine Tage, die überflüssig sind. Immerhin komme ich voran, auch wenn nichts passiert. Jetzt reift der Weg. Aber was soll ich erzählen von Möckern? Der Wirt meiner Pension "Schwarzer Adler" sagte, dass der Gasthof am Abend geschlossen sei. Es gebe aber eine Döner-Bude im Ort mit allem, was man braucht: Döner, Pizza, Pommes. Sonst gibt es in Möckern: nichts. Außer der "Deutschen Krone". Das Essen: Schnitzel mit Röstkartoffeln und Gemüse der Saison. Also Erbsen aus der Tiefkühltruhe. Es kostete 5,10 Euro. Es kamen Männer rein in die "Deutsche Krone". Sie begrüßen einander durchs Klopfen auf den Tisch. Sie klopften auf jeden Tisch. Auch auf meinen. Ich kannte die Männer nicht, ich hatte sie noch nie gesehen. Sie gingen dann in den Nebenraum, der Anglerverein.

Ich bin nach Schönebeck an der Elbe gelaufen. Der Weg: Tristesse, Menschenleere, Hoffnungslosigkeit. Aber immerhin: Weg. Schönebeck an der Elbe ist an der Elbe schön. Ansonsten hässlich. Eingeschlagene Scheiben beim Vietnamesen. Rechte Graffitis. Von Schönebeck gehe ich nach Langenweddingen. In Langenweddingen ist Kopfsteinpflaster, aber kein Ort. Es gibt eine Haltestelle für die S-Bahn. Es gibt vereinzelte Häuser, irgendwo gibt es die B 81, über die soll der Radweg queren. Ob ich noch auf dem richtigen Weg bin, weiß ich nicht, Hinweisschilder gibt es hier nicht. Ich laufe kreuz und quer, finde dann irgendwann "Ilona's Pension". "Ilona's Pension" sollte das Tagesziel sein und auch die Unterkunft. Allein schon wegen des Apostroph. Hundegebell empfängt mich. Auf einem Parkplatz nebenan stehen zwei große Trucks. Und Ilona, Mitte fünfzig, kläffenden Hund auf dem Arm, Trainingsanzug an. "Nee", sagt sie, "Zimmer haben wir nicht mehr, Weihnachtsfeier. Oh, herrje, Sie sind ja ganz nass, kommen Sie erst mal rein, ich mache Kaffee." "Werner" schreit sie dann nach hinten, "Werner, nimm mir mal die Lisa ab, sonst bringe ich sie um, halt jetzt endlich mal die Klappe, Köter."

Werner hat auch Trainingsanzug an. Und Ilona jetzt ein schlechtes Gewissen, dass sie den nassen Wanderer abweisen muss. Sie setzt mich in das Zimmer, in dem die Vorbereitungen für die Weihnachtsfeier laufen. Das Zimmer ist voller Lichterketten, Girlanden und Holzpyramiden aus dem Erzgebirge. "Hier hätte ich Sie unterbringen können", aber hier sei morgen der Frühstücksraum. "Machen Sie sich keinen Kopf", sage ich, "wenn ich angerufen hätte, wäre ich gar nicht hergekommen und hätte keinen Kaffee bekommen." Derweil Werner vor einer Landkarte steht und den Weg raussucht nach Oschersleben. "Im Prinzip, müssen Sie hier vorne rechts, dann links und immer geradeaus. Im Prinzip würde ich ja den Zug nehmen, aber das muss im Prinzip ja jeder selber wissen. Jetzt trinken Sie aber erst noch einen Kaffee. Einen Braunen dazu?" Oh, nein, bitte nicht, ich habe noch ein paar Meter.

4. Wolfenbüttel - Nettlingen. Trocken, angenehme Temperaturen, Plusgrade

Ich bin von Wolfenbüttel gekommen. In Wolfenbüttel habe ich den ersten Glühwein dieses Winters und dieser Wanderung getrunken. Auf dem recht romantischen Weihnachtsmarkt. Ein Muss war dieser Glühwein auf diesem Markt. Historische Bausubstanz drumherum, entspannte Stimmung. Nur ein paar Kitschbuden. Weihnachtsmärkte. Gab es die eigentlich früher? War ich jemals mit den Eltern auf einem Weihnachtsmarkt? Der Wirt der Glühweinbude in Wolfenbüttel sagte auch, dass es Weihnachtsmärkte in Deutschland erst seit etwa 30 Jahren gebe. Jetzt gibt es sie in jedem Dorf. Und man mag mich jetzt für mainstreamig halten, für versüßlicht, für sentimental, aber ich finde schöne Weihnachtsmärkte schön. Der in Wolfenbüttel ist sehr schön. Ich habe da noch einen Glühwein getrunken. Ich bin kurz vor der Hälfte der Wegstrecke. Das ist doch einen Glühwein wert.

Und jede Menge Lametta am Baum

Weihnachtsmärkte erinnern mich an das Weihnachten zu Hause. Wenn die Rede war von leuchtenden Kinderaugen, von Kerzenlicht und Frieden auf Erden. Es gab bei uns aber keine echten Kerzen, es gab elektrische, und jedes Jahr, wenn der handwerklich nicht besonders begabte Vater den Baum unter großen Anstrengungen in den Ständer einpasste, spätestens dann stellte die Familie fest, dass mal wieder zwei, drei der elektrischen Kerzen kaputt waren, aber nun auch kein Ersatz mehr herbeizuschaffen war. Dann mussten Werlands oder Soests aushelfen, die Nachbarn, die weihnachtlich irgendwie besser organisiert waren. Anschließend, wenn der Baum gerichtet war und das Lametta hing - fragt mich nicht wie viel Lametta - bekam der Vater einen Cognac. Weihnachten und Alkohol hingen also auch für mich schon früh zusammen. Wahrscheinlich habe ich deswegen, wenn ich mit meinem Sohn den Baum aufgestellt hatte - handwerklich ein wenig mehr begabt - nach der Baumaufrichtung immer einen Gin Tonic getrunken. Wahrscheinlich finde ich Weihnachtsmärkte deswegen heute schön. Wahrscheinlich habe ich auch deshalb auf dem Weihnachtsmarkt in Wolfenbüttel noch einen Glühwein genommen.

Und nun stehe ich an einer Kreuzung, der Kopf ist zwar wieder frei nach dem Glühwein, ich finde den Weg trotzdem nicht.Es gibt kein Schild, ich will und muss aber nach Nettlingen. Der Schulbus hält an einer Ecke. Ein einzelnes junges Mädchen steigt aus. Sie ist vielleicht zwölf Jahre alt, vielleicht elf, sicher noch keine dreizehn. "Kann ich Ihnen helfen", sagt sie. "Ich suche den Weg nach Nettlingen", sage ich. "Oh, den kenne ich", sagt sie, "wollen Sie Landstraße gehen oder lieber auf dem Feldweg?" Keine Frage, "Feldweg", sage ich. "Dann kommen Sie mit mir, von da wo ich wohne, zeige ich Ihnen den Weg, in einer Stunde sind sie in Nettlingen." Mir ist ein wenig komisch zumute. "Hat man dir nicht gesagt", sage ich, "dass du nicht mit fremden Männern gehen sollst?" Das Mädchen lacht mich an: "Ich gehe ja nicht mit Ihnen, Sie gehen ja mit mir." Sie ist wirklich erst zwölf, noch keine dreizehn. "Und außerdem, da hinten bin ich zu Hause", sie zeigt auf ein Haus am Ende der Straße, "und außerdem sehen Sie mit Ihrem Rucksack vertrauenswürdig aus."

Wir gehen los. Vor ihrem Haus verabschiedet sie sich, ihre Mutter winkt vom Fenster. "Sie gehen jetzt einfach geradeaus, am Ende der Straße kommt ein Feldweg, den immer geradeaus, bis sie wieder auf die Straße kommen, die letzten drei, vier Kilometer müssen Sie an der Straße entlanggehen." Das junge Mädchen hat mit der Beschreibung absolut recht. Und, liebe unbekannte Kleine, ich bin dir wirklich sehr dankbar für diese echte, schöne Weihnachtsgeschichte. Aber, bitte, mach das nie wieder!

In Nettlingen übernachte ich im Hamburger Hof. Am Abend gibt es Braunkohl mit Bregen, Backe, Grünkohl und Kartoffeln. Bitte keine Fragen, was Bregen und Backe ist, man braucht danach auf jeden Fall Schnaps. Eine Etage über der Kneipe probt der gemischte Chor von Nettlingen. Auch schön. Eine Weihnachtsgeschichte. Morgen weiter nach Nordstemmen. Am Himmel ist Abendrot. Es dürfte morgen ein schöner Tag werden.

5. Früher Aufbruch in Nettlingen. Eisiger Wind. Gefühlt -7 Grad, das Thermometer zeigt plus 1 an. Es lügt

Ich muss natürlich nach Himmelsthür. Auf einem Weg nach Hause zur Weihnachtszeit kommt man auch als nichtreligiöser Mensch nicht an Himmelsthür vorbei. Das ist ein Stadtteil von Hildesheim, aber die Wege dorthin sind vereist. Am Rand liegen Mieten mit Runkelrüben. Die Hildesheimer Börde ist ein weites Land mit Ortschaften weit hinten, die ich erlaufen muss, jede einzelne in der Hoffnung, dort ein geöffnetes Café zu finden, um heißen Kaffee zu trinken. Erst Wöhle. Nichts. Dann Ottbergen. Nichts. Ich habe das Gefühl, im Zick-Zack durch die Felder zu laufen. Der Wind bläst ins Gesicht. Zwei Finger der rechten Hand sind trotz der Skihandschuhe steif und weiß. Nach Ottbergen ist Achtum zu sehen, sehr weit hinten. Erst laufe ich durch Uppen. Nichts. In Achtum. Nichts. Ich laufe neben der B 6 auf Hildesheim zu. Wenn jetzt ein Auto hält und mir anbietet, mich mitzunehmen, ich wäre nicht puristisch.

Dann endlich Hildesheim, die Häuser schützen vor dem Wind, es wird warm, es gibt ein Café, es gibt sogar Kaffee. Nach vier Stunden und rund 20 Kilometern endlich Kaffee. Das Leben ist schön. Nach dem Kaffee weiter neben der B 6, ziemlich langweilig. Bis der Weg abzweigt, die B 6 verlässt und ich auf einen ausgelagerten Ortsteil von Hildesheim zulaufe: Himmelsthür, ich bin also definitiv auf dem richtigen Weg. Der Ort mit dem schönen Namen ist aber trotzdem nur ein sehr langweiliger Vorort mit fein herausgeputzten Häusern und Vorgärten. Nichts zum Verweilen.

Stinkefinger, Puck und Biene Maja

Von Himmelsthür nach Emmerke auf dem Fahrradweg neben der B 1. Von Emmerke weiter nach Klein Escherde, Heyersum und Nordstemmen. Nordstemmen lebt offensichtlich von Zucker, Nordzucker wird hier produziert. Das Hotel "Deutsches Haus" hat dienstags Ruhetag. Ich komme trotzdem rein. Ich bin der einzige Gast. Der Wirt sagt: "Kein Thema. Frühstück? Um halb sieben? Kein Thema." Und wo kann ich essen in Nordstemmen? "Im Bistro 105 essen, kein Thema, da gibt es alles, kein Thema, hundert Meter weiter, kein Thema." Das Bistro ist eine Kaschemme der übleren Sorte, sieben Männer stehen am Tresen. Im Hinterzimmer, der Raucher- lounge, sitzt ein Kerl wie ein Berg, "Schweißer, aber krankgeschrieben, Knochenbruch im Lenden-Rückenwirbel, ich bin Metaller seit 92, jetzt nicht mehr, ich habe fertig mit dieser Regierung, der zeige ich nur noch den Stinkefinger, kauf dir mal ne neue Brille, die siehst aus wie Puck von der Biene Maja." Dieser sympathische Zeitgenosse also bietet da im Hinterzimmer Elektrogeräte und Klamotten an. "Ist der Nachlass von einem Freund, der ist gestorben, war ein feiner Kerl." Ich brauche aber gerade keinen fast neuen CD-Player mit dazugehörigen Boxen und einem Beamer, "jedes Teil für 20 Euro". Ich brauche auch im Moment keine kurzärmeligen schwarzen Hemden, "würde dir aber passen." Das Essen kommt. Es gibt im Bistro 105 nicht alles, es gibt Schnitzel mit Pommes und Zwiebeln. Um das genießbar zu machen, müsste das Jesuskind schon viel älter sein und schon Wunder können. Wobei es sicherlich einfacher war, Blinde sehend und Lahme gehend zu machen, als dieses Essen aufzuwerten. Der Verkäufer der Elektro-Artikel will jetzt nichts mehr verkaufen. Er will mir Deutschland erklären. Und noch ein anderer kommt hinzu, ein LKW-Fahrer. "Hier muss einer her, wie der mit dem Bärtchen." Und plötzlich bin ich, ganz ohne Glatzen, in einer Kneipe voller Rechtsradikaler. Eine Diskussion ist zwecklos. Sie beten ihren Sarrazin und noch Schlimmeres herunter, sind besoffen, "geh mir weg mit Deutschland, ich zeige Deutschland den Stinkefinger, ich bin kein Rechter", sagt der Schweißer, der krankgeschriebene Schweißer, aber jetzt hebt er den rechten Arm hoch. Mir ist jetzt gerade nicht mehr adventlich zumute. Auch wenn auf dem Tresen ein Adventskranz brennt. Walking home for Christmas kann in Deutschland auch reichlich gruselig sein. Ich gehe ins "Deutsche Haus". Das ist auch gruselig. Himmelsthür ist schon wieder sehr weit weg.

6. Coppenbrügge - Amelgatzen - Schieder-Schwalenberg - Richtung Paderborn. Schneetreiben

Nach Nordstemmen laufe ich nach Coppenbrügge, das ist nach Nordstemmen angenehm dort, wenn auch der Zimmerwirt spät in der Nacht anklopft, und mich vor dem Sturm warnt. Er ist bei der Freiwilligen Feuerwehr. Aber er hat im Fenster einen Aufkleber hängen, auf dem steht, dass hier bei ihm keine Rassisten bedient werden. Ich verzeihe ihm das späte Anklopfen. Xaver, der Sturm kommt. Es schneit, mitunter sogar heftig, aber da habe ich in meiner Kindheit schon Schlimmeres erlebt. Es gibt ein Foto, da stehe ich am Rhein, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Auf dem Rhein treiben Eisschollen. Nicht, dass ich das jetzt wieder erleben will. Aber Xaver schreckt mich nicht. Hier am Rande Niedersachsens, vor der Türe meines Heimatbundeslandes, bläst Xaver nicht mehr, auf dem Weg nach Amelgatzen ist Xaver nur noch ein Xaverchen. Zwischendurch bin ich durch Hameln gelaufen, da endete der Radweg, ab jetzt orientiere ich mich an dem Hellweg-Weser-Schild.

Ich bin jetzt fast 14 Tage unterwegs. Irgendwie werde ich nicht müder beim Laufen. Aber irgendwie leichter. Es ist ja so: Ich laufe meistens um sieben Uhr los. Nach etwa einer Stunde mache ich eine kurze Pause, zwischen elf und zwölf folgt die lange Pause. Dann habe ich etwa 20 Kilometer hinter mir. Fünf Kilometer in der Stunde schaffe ich inzwischen stabil. Ich frühstücke normal, trinke Kaffee, esse Brote, wenn im Angebot auch einen Teller Müsli, wenn im Angebot auch ein Ei, für zwischendurch und für die Pausen zur vollen Stunde habe ich Riegel dabei. Ich sehe es ja nicht selber im Spiegel, aber ich merke, dass ich den Gürtel jetzt enger schnallen muss. Nicht aus sprichwörtlichen Gründen, sondern weil sonst die Hose rutscht. Nach der langen Mittagspause laufe ich noch mal zwei, drei Stunden, das durchschnittliche Tagespensum sind 30 Kilometer. Was ich sagen will: So ein Gang zurück in die Kindheit, kann auch gewichtsreduzierend sein. Nicht, dass ich vorher fett war, aber so langsam nähere ich mich dem Gewicht der Jugend an. Auch wenn ich am Abend nach 30 Kilometern reichlich esse. Hinter Paderborn kommt mir in der Ferne ein Jogger entgegen. Paderborn! Ich will jetzt nicht groß über Paderborn reden. Nur soviel, ich habe diesen Sündenpfuhl des Katholizismus überlebt. So wie ich den rheinischen Katholizismus der Kindheit mit seiner Restriktion und all seinen notgeilen Pfarrern überlebt habe. Es war aber knapp. Der Jogger kommt näher, winkt wild mit den Armen. Es ist eine Joggerin. Sie fällt mir in die Arme, als wir auf gleicher Höhe sind. Es ist Sigrun, eine alte Kollegin und Freundin. Die Begegnung irgendwo in Deutschland ist nicht ganz zufällig, ist inszenierter Zufall. Sie hat im sozialen Netzwerk gesehen, dass ich unterwegs bin, hat sich ausgerechnet, dass ich diesen Weg kommen muss und mich abgepasst. Um bei der Weihnachtsgeschichte zu bleiben: Caspar, Balthasar und Melchior bin ich also auch begegnet.

7. Salzkotten - Hamm - Dortmund - Bochum - Oberhausen - Duisburg - DÜSSELDORF. Plusgrade, trocken.

Ich laufe und laufe. Und laufe und laufe. Nach Hamm habe ich die Stadt quasi nicht mehr verlassen. Das Ruhrgebiet ist vertrautes Gebiet. Ich laufe auf dem Emscher-Ruhrpark-Weg. Aber der verläuft kaum an der Emscher entlang, auch nicht durch einen Park. Ich gehe auf Stadtstraßen, Vorstadtstraßen. Das ist optisch nicht sehr erbaulich, aber euphorisiert bin ich trotzdem. In Oberhausen laufe ich zum Gasometer, weil ich an die Emscher will. In der Emscher ist Michael Holzach ertrunken. Der war Journalist, ist durch Deutschland gereist, zu Fuß und ohne Geld. Der war Vorbild, zumindest hat er den endgültigen Ausschlag gegeben für die Berufswahl. Nach der Emscher laufe ich durch Oberhausen, hier hat die Tante gelebt, in deren kleinen Garten in der Lohstraße haben wir Kinder viel Zeit verbracht. Von Düsseldorf nach Oberhausen, das war mir damals immer als große Reise vorgekommen. Jetzt laufe ich die Strecke zu Fuß. Vor zwei Jahren haben wir die Tante auch beerdigt. In Duisburg suche ich Quartier für die Nacht, finde eins, aber das ist ein Zimmer für acht Personen, ist eher eine Obdachlosen-Unterkunft, und auch wenn das jetzt wenig weihnachtlich ist, ich verzichte auf diese Erfahrung.

Der Rhein, mein Fluss

Und nun laufe ich auf dem Deich. Schwester Claudia hat dann doch nicht mitlaufen können. Der Rhein kommt mir entgegen geflossen. Mein Fluss, in dem ich sogar mal gebadet habe, obwohl das damals sehr gesundheitsschädigend war. Spaziergänger kommen mir entgegen. Wahrscheinlich grinse ich grenzdebil, strahle, weil ich es gleich geschafft habe. Die Passanten sprechen mich an, ich sage, was ich gemacht habe. "Mönsch", sagen die Passanten, "is ja toll." Finde ich auch. Ich laufe durch Kaiserswerth, einem dem nördlichsten Stadtteile von Düsseldorf. Wie oft ich hier hinlaufen musste an Sonntagen mit den Eltern, weiß ich nicht mehr, ich weiß aber noch, dass das für den kleinen Helmut ein ziemlicher Gewaltmarsch war. Ich passiere die Arena, in der die Fortuna heute spielt. Früher, damals, als sie noch im Rheinstadion spielte, habe ich von ihr viel gelernt fürs Leben. Von der Fortuna lernen heißt nämlich verlieren lernen. Zu wissen, wie man mit Niederlagen umgeht, ist nicht die schlechteste Erfahrung, die man im Leben machen kann.

Die Heimat zu Hause

Ich gehe weiter. Ich kenne hier jeden Stein. Ich laufe unter der Oberkasseler Brücke hindurch. Die hat damals noch anders ausgesehen. Aber unter der habe ich Almut geküsst. Oder sie mich. Der erste Kuss war das. Später habe ich mal unter dieser Brücke drei Tage und Nächte gewohnt. Ich hatte die Miete nicht mehr bezahlen können, aber ich bin heute sicher, dass es für den Selbstversuch als Obdachloser keine zwingende Notwendigkeit gab. Ich bin danach erstmal bei Freunden untergekommen. Wahrscheinlich habe ich mir nur gefallen im Selbstmitleid. Und jetzt bin ich da, stehe vor dem Schloss turm, laufe durch die Altstadt, die zum Ballermann am Rhein verkommen ist, in der ich gekellnert und mein Studium finanziert habe. Ich muss nur noch einen Gang machen. Runter nach Bilk. Bilker Allee 136, Ecke Elisabethstraße, Zweiter Stock rechts, Telefon: 342249. Es ist erstaunlich, dass ich die Nummer immer noch im Kopf habe. Isch bin zo Huss. Aber jetzt gehe ich lieber zum Hauptbahnhof, setze mich in den Zug und fahre heim.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false