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Berlin: Heinz Adam Stark (Geb. 1919)

Er schlief in einer Gruft. Von dort konnte es nur noch bergauf gehen.

Auf dem Kopf ein Lodenhut, an der Leine ein Dackel, Brille, unauffällige, dunkle Kleidung – so geht Herr Stark wie das Urbild des deutschen Rentners durch die Schöneberger Gotenstraße. Eine junge Frau kommt ihm entgegen: „Guten Tag, Herr Stark“. Wie fast alle in der Gegend kennt sie den Mann mit dem Lodenhut. „Gedicht gefällig?“, fragt er freundlich und wirft sich in Pose, um mit fein modulierter Stimme Ringelnatz zu deklamieren: „Ein Wiesel saß auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel …“ Herr Stark hat aber auch Morgenstern im Programm oder Kästner oder Rilke oder Reutter. Für eilige Passanten oder wenn der Dackel zu sehr zieht, gibt es auch mal bloß einen Schüttelreim.

Die junge Frau freut sich: „Haben Sie das neu gelernt?“ Herr Stark nickt. Gerade will er zu einem weiteren Poem ansetzen, da fährt ihm ein Kind mit Fahrrad schwungvoll gegen das Bein. Ängstlich guckt der Dreikäsehoch zu dem alten Herren. „Fahrradfahren kannste ja schon“, sagt Herr Stark. „Jetzt musste nur noch an den Leuten vorbei.“

Die junge Frau lacht. Zum Abschied fragt sie: „Könnten Sie in der nächsten Woche wieder meine Blumen gießen? Den Schlüssel haben Sie ja.“

Herr Stark hat viele Schlüssel. Eine kleine Kiste voll. Falls jemand in der Fünfziger-Jahre-Wohnanlage mal den eigenen verliert. Falls jemand verreist: Herr Stark sieht nach der Wohnung, gießt Blumen, füttert Tiere, lüftet, sortiert die Post, koordiniert Handwerker, zahlt Knöllchen. Herr Stark weiß genau, was los ist, aber er nutzt sein Wissen nur zum Helfen, nie für Klatsch. Herr Stark merkt auch, wenn jemand seine Hilfe gar nicht will, aber das sind die wenigsten.

Neben seinem Dackel versorgt Herr Stark „Teilzeithund“ Oscar, einen einbeinigen Beo, die Sittiche, die der Nachbar nach dem Urlaub nicht zurückwollte und einige Fische. Seit dem Tod seiner Frau hat Herr Stark erst recht Zeit für Mensch und Tier in der Nachbarschaft.

Aufgewachsen in den einfachen Verhältnissen eines kinderreichen Arbeiterhaushalts am Schlesischen Tor, fielen seine Jungmännerjahre in den Krieg. Nach Russlandfeldzug, Stalingrad und russischer Gefangenschaft kehrte er in ein völlig zerstörtes Berlin zurück. Er verdingte sich als Totengräber und schlief mehrere Monate in einer Gruft. Von dort konnte es nur noch bergauf gehen. Er lernte seine Else kennen, begann eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker bei Opel und zog mit Frau und Schwiegermutter in die Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in der Gotenstraße. Else wollte, dass sie die Wohnung kauften, also kaufte Herr Stark die Wohnung. Else wollte, dass er sich beruflich entwickelte, also erwarb er den Meisterbrief. „Man soll auf die Frauen hören“, sagte Herr Stark gern. „Die wissen es besser.“

In den Neunzigern erkrankte Else chronisch und wusste oft gar nichts mehr. Herr Stark behielt seine Heiterkeit und Gemütsruhe. Die Menschen in der Gotenstraße fragten sich manchmal, ob er nicht auch mal explodierte, ungerecht wurde, Leichen im Keller hatte. Aber nichts. Erzählte Herr Stark vom Krieg, sagte er, dass er Glück gehabt habe, dass ihm als Küchenhilfe und Chauffeur die schlimmsten Fronterlebnisse erspart geblieben wären. Erzählte Herr Stark von der Erkrankung seiner Frau, kommentierte er die Zustände lakonisch: „Wenn sie noch gerne für mich kocht, schmecken mir auch die verkohlten Bouletten.“

Und selbst, wenn er seinem Dackel einmal drohte: „Wenn du weiter ziehst, schlag ich dich nachher zu Hause zusammen“, sah man Herrn Stark den Hund wenig später behutsam die Treppe hochtragen.

Was Herr Stark nicht mochte, war, wenn andere seine Arbeiten erledigen wollten. Hilfe nahm er nicht gern an, freute sich aber über warme Essenslieferungen, wenn etwas über war. In den letzten Jahren schwerhörig, saß er oft mit Kopfhörer vor dem Fernseher, sah seine Tierfilme oder blies sich mit voller Lautstärke Beethoven in die Ohren. Klingelte jemand, sah Herr Stark ein Lichtsignal und kam zur Tür. Brachte jemand Essen, huschte ein Lächeln über sein Gesicht, bevor er rasch mit Teller oder Tupper wieder in seiner Wohnung verschwand. Bei besonderen Gerichten wurde auch schon mal der Tisch festlich gedeckt und der Anzug angezogen, „wie im Adlon“.

Auf der Beerdigung seiner Tante zog sich Herr Stark eine Erkältung zu, an der er nach zwei Wochen starb. Die Kripo notiert „unbekannte Todesursache“, vergisst den Ordner mit den Adressen der Angehörigen und gibt die Akte ans Sozialamt. Herr Stark wäre anonym bestattet worden, wenn nicht ein Hausbewohner den Neffen informiert und mit seiner Unterschrift einen Bestatter beauftragt hätte. Nun ruht Herr Stark dort, wo er es wünschte: Neben seiner Frau.

Zur Beerdigung kommen viele Bewohner der „Roten Insel“ Schöneberg. Manche fragen sich beim Leichenschmaus, wo Herr Stark die Gelassenheit her nahm, diese Fähigkeit glücklich zu sein. Eine ältere Dame zuckt mit den Schultern, erinnert sich aber an einen von seinen halb ironisch vorgetragenen Sprüchen: „Ich heiße Stark, ich bin ein Naturbursche.“ Anselm Neft

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