zum Hauptinhalt

Berlin: Heinz Riedel Lehmann (Geb. 1941)

Andere werden Tauben. Er wurde Falke.

Von David Ensikat

Riedel, das ist der Name der Mutter. Lehmann, den Vatersnamen, hat er dazugestellt, als er 41 war. Von seiner Mutter hat er, bis sie starb, nicht viel gehalten. Seinen Vater hat er bewundert, weil der so klug und originell war. Dass der Vater seinen Vaterpflichten je genügt hätte, kann man nicht behaupten.

Wer überhaupt seine Eltern waren, das hat Heinz erst erfahren, als er 13 war. Nachdem er Dinge erlebt hatte, für die der Begriff Albtraum wie eine Beschönigung klingt.

Er kam, wie er das selbst sagte, „als Bastard“ auf die Welt. Ein ungewolltes Kind der 25-jährigen Ku’damm-Verkäuferin Emma Luise Riedel und des 19-jährigen Jurastudenten Heinz Lehmann. Der galt als gute Partie, er entstammte einem wohlhabenden Königsberger Industriellenhaus, sah gut aus und war von beeindruckender Intelligenz. Emma Luise, die Verkäuferin, war für ihn ein Abenteuer, sie zu heiraten, nur wegen des Sohnes, den sie nicht hatte wegmachen lassen, kam nicht infrage. Wie hätte er das seinen Eltern in Ostpreußen erklären sollen? Emma Luise hatte nun aber diesen Sohn, gab ihm den Vornamen seines unwilligen Vaters und war überfordert. Sie nahm das Baby, fuhr mit ihm nach Königsberg, läutete an der Tür der hochherrschaftlichen Villa, welche den Eltern des Kindsvaters gehörte, sprach vor – und kehrte ohne Baby nach Berlin zurück. Der „Bastard“ begann sein Leben im Haus seiner Großeltern.

Die Erinnerungen des jungen Heinz setzen drei Jahre später ein, es sind wenige sehr schöne Eindrücke, dann folgt das Grauen. Königsberg, noch unzerstört, die Großeltern, die Villa, der Zoo nebenan, ein großer Hund im Villengarten, auf dem Heinz reiten konnte, das nette Hausmädchen und die Eifersucht auf einen Mann, der hin und wieder zu Besuch kam, lustig war und nett, aber das Hausmädchen für Stunden dem kleinen Heinz entriss. Der Mann trug denselben Vornamen wie er. Es war sein Vater, zu Besuch im Elternhaus. Onkel Heinz. Für den Jungen waren die Begriffe „Vater“, „Mutter“ ohne Bedeutung. Selbst seine Großeltern gaben ihn tageweise fort, an ein kleinbürgerliches Ehepaar, die Billers, die gut zu dem Jungen waren, ein Onkel, eine Tante.

Im August 1944 warfen britische Flugzeuge Bomben auf Königsberg. Heinz hörte die Tiere im Zoo in Todesangst brüllen. Im Herbst näherte sich die Rote Armee. Heinz lernte, russischen von deutschem Geschützdonner zu unterscheiden. Die Großeltern verließen die umkämpfte Stadt im letzten Augenblick. Sie hofften, die Billers würden den Jungen mit der Bahn nachschicken. Aber da fuhr keine Bahn mehr aus Königsberg hinaus. Es regnete Granaten auf die Stadt, jeden Tag mehr. Ein Splitter zerfetzte das Bein von Frau Biller, sie verblutete, und Heinz sah zu. Dann begrub er sie gemeinsam mit Herrn Biller im Hof des Hauses. Herrn Biller traf kurz darauf eine Kugel in den Rücken, auch da war Heinz dabei, keine vier Jahre alt. Er ließ den Mann am Straßenrand liegen und lief alleine durch die Stadt, die zerborsten war, hinter jeder Ecke Soldaten, deutsche, russische, polnische, und alle schossen. Die Bilder haben sich ihm eingebrannt.

Heinz in einem Keller, draußen Donner, Motoren, Rufe, im Nachbarkeller eine Granatenexplosion, Brüllen, Schreien. Heinz hüpft von einem Bein aufs andere, ruft „Sieg Heil! Sieg Heil!“ – und bekommt eine geknallt. Russische Soldaten kommen in den Keller, ganz andere Helme als die deutschen, andere Gesichter. Einer ruft: „Chitler kaput!“ Heinz macht es ihm nach: „Hitler kaputt!“ – und bekommt zwei Ohrfeigen von derselben Frau, die ihn vorhin geschlagen hat.

Es gab hunderte Kinder, die in den letzten Kriegstagen allein durch Königsberg irrten, elternlos, heimatlos. Russische Soldaten sammelten sie auf und steckten sie in ein Lager mitten in der Stadt. Auch die folgenden Monate prägten sich der jungen Menschenseele ein, der Drill, Ordnung, Unterordnung, Nikolai, ein beeindruckender Sergeant, groß, mit rundem Bauch, der streng war, doch auch gut zum Jungen, an den der Junge sich halten konnte. Ein Spaziermarsch durch die Trümmerstadt, Schüsse aus dem Hinterhalt, wahrscheinlich von Polen abgefeuert, der zusammenbrechende Nikolai, das Blut, das unter seinem Kopf hervorsickert, der letzte Satz: „Lauf, Cheinz, lauf!“ Ein Trauerappell, Trommelwirbel, Nikolais Sarg auf der Lafette, Weinen um einen russischen Soldaten, der wie ein Vater war für diesen deutschen Knaben.

Heinz lernte in dem Lager, dass man Stalin lieben muss und Sonderrationen mit Disziplin erkaufen kann. Schließlich kam der Befehl: Deutsche raus aus Königsberg, die Kinder auch. Ein Eisenbahntransport nach Westen, Tage im eiskalten Güterwaggon, Kinder sterben, werden hinausgeworfen, bleiben im weißen Schnee zurück.

Heinz kam in ein Waisenheim in Sachsen, dort herrschte Hunger, Wasserbäuche schwollen an. Er hatte Glück, weil seine Füße keine Erfrierungen aufwiesen wie die der anderen Kinder. Eine Frau, Mutter zweier Töchter und Kriegerwitwe, nahm den Jungen zu sich. Vom Dorf in der sächsischen Schweiz aus war es ein weiter Weg zur Schule, da mussten die Füße gut sein.

Eine Familie: zwei Schwestern, eine Mutter. Die Schule, ein Pionierhalstuch, viele Bücher. Heinz hatte ein Zuhause.

Bis sich im Oktober 1954 ein Wunder zutrug. Nachbarn hörten im Radio Vermisstenmeldungen des Roten Kreuzes, darunter eine, die nur Heinz meinen konnte. Seine Großeltern aus Königsberg, inzwischen wohnhaft in West-Berlin, hatten die Meldung aufgegeben. Die Pflegemutter meldete sich bei der Großmutter, die fuhr in die Sächsische Schweiz, traf auf einen 13-jährigen sächselnden Knaben, stellte fest, wie auch immer: Das musste er sein, überzeugte die Pflegemutter, dass West-Berlin besser sei als Sachsen. Heinz wollte nicht fort, doch er wehrte sich auch nicht.

Es begann sein Nachkriegsleben, eines, das man nach allem, was war, als schnurgerade bezeichnen kann: Leistung – Geld und Leben – Alkohol und Tod.

Heinz lebte bei den Großeltern. Die hatten seinen Vater gedrängt, mit in das Haus zu ziehen, zu seinem Sohn, der gerade erfahren hatte, dass der nette Onkel Heinz von damals sein Vater war. Er ging in die Schule bis zur zehnten Klasse, wurde Verlagskaufmann beim Tagesspiegel, studierte Werbewirtschaft, Werbeleute wurden gebraucht im Wirtschaftswunderland, zog ins Rheinland zur Agentur, liebte Frauen, rauchte Zigaretten, trank teuren Scotch, fuhr schnelle Autos.

Er nahm sich vom Leben, was das Leben bereithielt. Heinz war nicht mehr ausgeliefert, wollte es nie mehr sein. Er entschied, wie es weiterging. Ein Mann, der wusste, was Freiheit ist, weil er das Gegenteil kennen gelernt hatte.

Und einer, der das hier sagte: „Andere wären nach dem, was ich erlebt habe, zu Tauben geworden. Mich hat es zum Falken gemacht.“

Nicht dass Heinz Riedel Lehmann ein Kriegstreiber geworden wäre, das nicht. Aber das Kriegerische, oder soll man sagen: das Wehrhafte blieb ein Lebensthema, im Beruflichen wie im Privaten. Er war ein Mann, der „Truppen in Stellung“ brachte, von „unsichtbaren Fronten“ sprach und vom „Schießen aus allen Rohren“, ob es um eine Werbestrategie ging oder um eine „Scheidungsschlacht“.

Die Werbung für Im-Laden-Kaufbares wurde ihm schnell langweilig. Interessanter war es, Politik zu verkaufen. Er kümmerte sich um Öffentlichkeitsarbeit und Wahlwerbung für Parteien. Dann machte er sich selbstständig, und es begann, wie es die Frau seiner letzten Jahre nennt, „seine ungesunde Zeit“. Heinz Riedel Lehmann half Pharmakonzernen, Atomenergieerzeugern und Rüstungsbetrieben, ihre Angelegenheiten der Öffentlichkeit günstig darzustellen. Wenn es sein musste, im Fall der Rüstungsunternehmen war das oft so, half er, die Angelegenheiten vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Er fuhr in Panzern mit, weil er wissen wollte, worum es in seinem Geschäft eigentlich ging. Er schrieb Vorlagen fürs Verteidigungsministerium, Argumentationshilfen für Debatten um die Rüstungsausgaben, selbstverständlich ohne den Betrieb zu nennen, in dessen Auftrag er das tat.

Und er vermied es, je Zweifel an seinem Tun zu offenbaren. Umso schwerer fiel es ihm, sein Tun einzustellen. Eine Arthritis fesselte ihn an den Rollstuhl, er verlor seine Handlungsfreiheit, war wieder ausgeliefert. Und Heinz Riedel Lehmann erinnerte sich so scharf wie noch nie an die Zeit, als das schon einmal so gewesen war. Er schrieb nieder, was in ihm aufstieg. Erinnerung an etwas, das man Kindheit nennt. David Ensikat

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false