zum Hauptinhalt

Berlin: Helga Heinke (Geb. 1936)

„So wurde das noch nie geschrieben!“

Von David Ensikat

Sie kam um drei, nein, sie kam kurz vor drei. Sie holte ihr Körbchen aus dem Schrank mit den Arbeitsutensilien, ein Duden, aktuellste Auflage, ein zweiter Duden, alte Rechtschreibung – um im Zweifel sagen zu können: „So wurde das noch nie geschrieben“ –, das Glas Kaffeeweißer und, am wichtigsten: die roten Stifte. Um drei saß sie am Schreibtisch und begann, die Zeitung des nächsten Tages zu lesen, gedruckt noch nicht auf Zeitungspapier, sondern auf weißen A3-Bögen. Deren Vorteil: Frau Heinkes Korrekturmarken, an jedem Fehler eine, leuchtend rot, unmissverständlich akkurat, stets auf dem Stand des jeweils gültigen Regelwerks, waren nicht zu übersehen. Sehr rot waren die Seiten, die sie durchgearbeitet hatte, deprimierend rot, rettend rot.

Und Helga Heinke kannte sich nicht nur im Rechtschreiben aus, sondern auch im Schreiben. Die Schreibenden ließ sie das sehr zart spüren: „Sind Sie sich ganz sicher, dass Sie das so ausdrücken wollen?“

Die wenigsten beim Tagesspiegel wussten, dass diese Dame im Rentenalter, mit den sorgsam frisierten Haaren, der Goldrandbrille und dem winzigen, sehr höflich klingenden Sächsischrest im Tonfall viel mehr Journalistenerfahrung hatte als sie selbst. Nie hätte sie jemanden darauf hingewiesen.

1955 hatte sie bei der „Liberal-Demokratischen Zeitung“ in Halle angefangen. Ihre Tante Ursel war im Zoo die Sekretärin und der Zoodirektor war mit dem Chefredakteur befreundet, so ist das gekommen. Ein Germanistikstudium, das sie noch lieber begonnen hätte, war nicht drin, weil ihre Mutter in den Westen gegangen war.

Sie lernte, wie man Reportagen schreibt, wenn es sein musste, auch über Dinge, über die es nichts zu sagen gab. Als sie von einem Kinderwagenkorso in die Redaktion zurückkehrte und meinte, dass darüber nichts aufzuschreiben sei, weil da nur Frauen mit Kinderwagen unterwegs gewesen seien, mehr nicht, da machte ihr der Chef sehr lautstark klar, dass dies eine ganz und gar unjournalistische Ansicht sei. Die Relevanz eines Ereignisses bemesse sich grundsätzlich am zu füllenden Platz in der Zeitung.

Und später dann, in Berlin beim „Morgen“, lernte sie: Ein Kochrezept auf der Frauenseite einer DDR-Zeitung hat sich vor allem an der DDR-Versorgungslage zu orientieren. Werktätige Mütter, die nach der Schicht in der Kaufhalle keine Nüsse kaufen konnten und in ihrer Zeitung ein Rezept für Nusskuchen fanden, verspürten einen Drang zum Leserbriefschreiben, vergleichbar jenem des Studienrats, der im Tagesspiegel „Goete“ liest.

Eine werktätige Mutter, das war Helga Heinke auch, seit ihrem 36. Lebensjahr eine alleinerziehende mit zwei Söhnen. Einmal im Jahr musste sie sich von Amts wegen Gedanken über die Stellung der Frau im Sozialismus machen: Da war 8. März, Frauentag, und irgendjemand musste den Leitartikel zum Thema schreiben, am besten die Leiterin der Frauenredaktion. Und die hieß Helga Heinke. Sie tat es, wenn es ihr auch mit den Jahren und mit den Erfahrungen als Frau im Sozialismus immer schwerer fiel.

Dass ihr Redakteurinnenleben dennoch ein erträgliches, meistens sogar schönes war, lag an den anderen Frauen in der Frauenredaktion. Man kann das Viererkollektiv wohl als eine jener Nischen bezeichnen, in denen sich die Menschen ihren Sozialismus erträglich machten. Diese hier widmeten sich mit Hingabe ihren Frauenporträts und den Themenseiten für die Festtage, sie zelebrierten ihre Frühstücks- und Mittagspausen, sie kauften füreinander ein, sie feierten Geburtstage, die eigenen und die der Kinder.

Es war ein Journalistenleben, das mit dem heutigen so wenig gemein hatte wie die Frauenseite des „Morgen“ mit der letzten Seite des Tagesspiegels. Vielleicht konnte sich Helga Heinke auch deshalb so gut damit abfinden, dass sie in den letzten Jahren die Zeitung las, anstatt sie vollzuschreiben.

Sie war die erste und die aufmerksamste Tagesspiegelleserin. Als sie an einem Donnerstagnachmittag die Nachrufeseite mit ihren roten Markierungen versehen hatte, sagte sie: „Schöne Geschichten. Aber wieder so traurig. Muss das denn immer so sein? Und hier haben Sie wieder zwei Hauptsätze mit ,und‘ durch ein Komma getrennt. Das tun wir nicht mehr!“ David Ensikat

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false