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Berlin: Helga Stilidis (Geb. 1942)

„Naja, manchmal ist es schon alles ein bisschen viel.“

Auf der Neuköllner 1.-Mai-Demonstration im Jahr 1968 erblickt Simon sie zum ersten Mal: Eine hübsche, blonde, aufgeschlossene Frau, die wie er gegen die Militärdiktatur in Griechenland protestiert. Sie heißt Helga, viel mehr erfährt er an dem Tag nicht. Doch fortan begegnet Simon, der griechische Exilant, ihr immer wieder. Denn Helga läuft nicht nur auf Demonstrationen mit. Sie übersetzt auch die sozialistisch inspirierten Vorträge der griechischen Freiheitskämpfer und hilft ihnen, die deutsche Bürokratie zu bewältigen.

Wer ist diese Person, die sich so für seine Heimat einsetzt? Von den Faschisten lässt Simon sich nicht einschüchtern, wohl aber von einer Frau wie Helga. Nur langsam kommen sie sich näher, und langsam erfährt er ihre Geschichte.

Helgas erste Kindheitserinnerungen sind verschwommene Bilder eines Luftschutzkellers in Lichterfelde West. Brennend deutlich dann die Erinnerung an ihren ersten Berufswunsch: Brötchenverkäuferin! Ihr zweiter Berufswunsch, entwickelt mit vollerem Magen: Grundschullehrerin. Doch Helgas Vater, ein Ingenieur, rät ihr zu einer Ausbildung als Bibliothekarin. Als ihre Mutter stirbt, beschließt sie, bei ihm wohnen zu bleiben und folgt seinem Rat. Doch neben dem Alltag mit dem Vater und als Bibliothekarin im Schulbau-Institut der Kultusminister-Konferenz erobert Helga sich ein Gebiet, das mit beidem nichts zu tun hat: Griechenland. Für die Antike hat sie sich schon als Schülerin begeistert. Auf ihren Reisen entdeckt sie das moderne Griechenland, für das sie sich nun in jeder freien Minute engagiert.

Bald wird sie von Simon und den anderen Freunden mit dem Namen einer griechischen Freiheitskämpferin gerufen: Bouboulina. Simon verliebt sich in diese Bouboulina, er verliebt sich so sehr, dass er es wagt, beinahe täglich bei ihr anzurufen, obwohl ihr Vater gerne den Hörer abnimmt. Und der wünscht sich für seine Tochter nichts sehnlicher als einen deutschen Beamten.

Doch da sich Helga in ihre griechischen Angelegenheiten von dem Vater nicht hereinreden lässt, feiern sie und Simon unbeirrt ihre Hochzeit. Mit 32 Jahren zieht Helga bei ihrem Vater aus.

Im selben Jahr bricht die griechische Militärregierung zusammen. Kurz darauf bekommt Helga ihr erstes Kind. Doch auch das neue Griechenland liegt in den Geburtswehen. „Fahr hin“, sagt Bouboulina. Simon reist also in die Heimat, um dort die Gewerkschaften zu organisieren und die demokratische Bewegung zu unterstützen. Helga bleibt in Berlin. Gibt morgens das Baby bei einer Tagesmutter ab. Trifft pünktlich im Institut ein. Am späten Nachmittag hastet sie zurück, um ihr Mädchen abzuholen. Schläft das Kind, bearbeitet sie die Behördenangelegenheiten der Gastarbeiter. Mit ihrem Einkommen finanziert sie Simons Arbeit in Griechenland.

Nach drei Jahren kommt Simon zurück. Die zweite Tochter wird geboren. Helgas Vater ist froh, dass der Schwiegersohn jetzt statt der Revolution ein Restaurant führen will, auch wenn es „Ano Kato“ heißen soll, was so viel wie „Drunter und Drüber“ bedeutet. Dunkel und rauchig ist das Lokal, persische Taxifahrer und FU-Professoren prosten einander zu, Liebschaften nehmen hier ihren Anfang.

Keine Frage, dass Helga die Buchführung übernimmt. Keine Frage, dass sie sich nach ihrem Tag im Institut an den Herd stellt, wenn die Köchin ausfällt. Keine Frage auch, dass sie ihre Beine vom Sofa schwingt, wenn spät ein Anruf kommt, dass Stammgäste da sind, die sich Helga an ihren Tisch wünschen.

„Naja, manchmal ist es schon alles ein bisschen viel“, seufzt sie. Doch es ist schwer, Helga etwas zurückzugeben für ihre Mühen, Geschenke sind ihr unangenehm. 58 Jahre ist sie alt, als Krebs diagnostiziert wird. Sie spricht wenig darüber, die Behandlung verläuft gut.

Als sie mit 63 ihre Rente antritt, trauert sie ihrer Arbeit nicht einen Tag nach. Auch das „Ano Kato“ wird verkauft, und nun endlich ist Raum. Raum für was? Für die Enkel, pünktlich zum Rentenantritt geboren. Helga besucht die Tochter mit den beiden Söhnen beinahe täglich, verwöhnt die Jungen, wie es ihr mit den eigenen Kindern nicht möglich war. Jetzt kann sie ausleben, was sie sich als Mädchen gewünscht hat: sich hauptamtlich um Kinder kümmern. Sie erzählt von ihrem neuen Glück wie von einem Lottogewinn.

Noch nicht einmal in den Urlaub fahren möchte sie ohne ihre Enkel. „Fahr schon“, drängt die Tochter, „wir kommen ja in drei Wochen nach.“ Also reist Helga mit Simon nach Griechenland, wo sie ein Häuschen besitzen. Früher hat es Helga gestört, dass das Haus keinen Internetanschluss hat; sie konnte sich nur schwer von ihrem Alltag lösen. Diesmal ist es anders. Sie genießt die gemeinsamen Spaziergänge an der Küste. Freut sich auf die Honigmelonen im Garten. Richtet vergnügt das Zimmer für die Kinder her.

Als alles fertig ist, leiht sie sich vom Nachbarn eine Tasche voller Bücher. „Die Lebenszeit reicht nicht aus, um alle guten Bücher zu lesen!“, seufzt sie. Am nächsten Tag fühlt sie sich schlecht, bricht bei einem Arztbesuch zusammen. Im Rettungswagen öffnet sie die Augen. Helga schaut Simon an. Er nimmt ihre Hand. Sie drückt zu. Lächelt.

Sie stirbt im Krankenhaus. Die Familie lädt die Freunde ins „Ano Kato“. So viele Trauernde, so wenig Tische. Anne Jelena Schulte

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