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Berlin: Henning Franzen (Geb. 1926)

„Gebotene Eile lässt mir einfach den Verstand durchgehen.“

Auf den Grund seines Wesens stieß er, als er 18 war. In sein Tagebuch schrieb Henning Franzen: „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass mein Hauptmerkmal die Langsamkeit ist.“

Es ging ihm um eine Gabe, nicht um Trödelei oder Faulheit, wie es ihm oft ausgelegt wurde. Henning Franzen konnte sich den Dingen widmen mit all der Aufmerksamkeit, die sie verdienten.

Die Zeit von 1944 bis 1949 hat er auf über tausend eng beschriebenen Seiten festgehalten, bis ins Detail: Über Seiten hinweg listet er aufs Gramm genau auf, was er wo mit seinen Lebensmittelmarken bekam, was er daraus kochte und wie viel übrig blieb. Beinahe in Echtzeit schreibt er Situationen hinterher, in denen er sich ins Unrecht gesetzt fühlt. Keinen Wortwechsel, keinen Blick, keine Geste lässt er aus. Die Schrift ist schön und sorgfältig. So brachte er ganze Nächte zu.

Henning versank in den Dingen, sein Umfeld reagierte mit Unverständnis. Wieso kam er zu spät? Wieso schlief er bis mittags? Sein Vater, ein erfolgreicher Jurist, war diszipliniert, entschieden, schnell im Denken und Handeln. Er haderte mit dem ältesten Sohn. Trotzdem ging vom Vater eine Faszination aus, der sich Henning nicht entziehen konnte, schon als Vierjähriger nicht. Daran erinnerte er sich gut: „Ein Zimmer in unserer Wohnung war der Unterrichtsraum, in dem mein Vater jeden Morgen mit vielen Studenten zusammen war. Von außen hörte ich immer seine laute Stimme, die bald an-, bald abschwoll, manches Wort laut betonte, andere weniger stark hervorhob. Wenn ich auch die Worte selbst nicht richtig verstand, die rhythmische Melodie ist mir für immer im Ohr geblieben.“ Auch später ging es ihm oft noch so mit den Worten und Sätzen. Wenn er etwas las, brachte er die Worte in seinem Kopf zum Klingen; dann merkte er, dass er ihren Sinn gar nicht erfasste, und las wieder und wieder. Oder umgekehrt: „Ich dachte über eine Sache nach und es formten sich mir die Gedanken als Sprachmelodien – doch die Worte blieben aus.“

Henning wollte Ingenieur werden. Der Vater wollte, dass er Jura studiert. Bis Hennings technische Begabung von Nutzen für ihn war: Sein juristisches Repetitorium sollte gedruckt werden. So wurde Henning weder Jurist noch Ingenieur. Henning wurde Drucker.

Von nun an verbrachte er seine Nächte im „Bandelkeller“, der kleinen Druckerei in der Bandelstraße, Moabit. Er druckte Plakate, Werbung und Handzettel – und immer wieder die juristischen Texte des Vaters. Auf Hunderten eng beschriebener Zettel gab der Vater genaueste Anweisungen. Ein Bombardement. Der Vater tobte, wenn der Sohn mal wieder eine Frist versäumte. Doch Henning konnte nicht anders, er konnte nicht hetzen. „Auch wenn man mir effektives Handeln abspricht, ich weiß von mir das Gegenteil: Gebotene Eile lässt mir einfach den Verstand durchgehen.“

Seine Auftraggeber schätzten zwar die Qualität seiner Drucke, doch es waren zu wenige. Die Druckerei warf kaum etwas ab, und Henning hatte immer Schulden. Aber er liebte, was er tat.

Sein treuester Kunde war der Besitzer des Nachtclubs „Chez Nous“. Dort ging Henning manchmal hin, er mochte die bunten Gestalten mit ihren exotischen Kleidern, die Transvestiten mit goldenen Schuhen.

Einmal kam sein Bruder in den Bandelkeller und fand Henning mit hellblauem Lidschatten und Lippenstift. Das bunt gemusterte Sommerkleid, die blonde Lockenperücke, Handtasche und Feinstrumpfhose passten gut zu Hennings zarten Armen und Beinen. Es gibt Fotos aus der Zeit, die hat er alle selbst gemacht: Er verkleidete sich und stellte die Kamera auf ein Stativ, er bediente den Selbstauslöser, lief in die andere Ecke des Raumes, drehte sich zur Kamera und legte den Kopf leicht schräg. Sein Blick – ein klein wenig verführerisch, vor allem: zufrieden.

Seine Leidenschaft lebte er aber nicht nur im Keller aus. Zehn Jahre lang war er Angelique und trat im Chez Nous auf.

Auch Terezinha tanzte dort, eine Brasilianerin, schön wie eine Amazonasprinzessin. Henning verliebte sich. Zur Hochzeit kam er zwei Stunden zu spät. 35 Jahre, bis zu seinem Tod, währte die Ehe. Eine glückliche Ehe. Anfangs musste Terezinha zwar noch das Wörterbuch zu Hilfe nehmen, aber Gespräche waren ohnehin nicht wichtig.

Er habe in all den Jahren nicht ein einziges Mal mit ihr geschimpft, sagt sie. Er ließ sich gern von ihr den Tee ans Sofa bringen, sie überließ ihm alles Übrige. Am Abend besuchte sie ihn manchmal in der Druckerei, einfach um in seiner Nähe zu sein. Die beiden genügten einander.

Als in den neunziger Jahren auch die Druckaufträge des Chez Nous nicht mehr kamen, setzte Henning sich zur Ruhe. Seine Technik entsprach auch längst nicht mehr dem Stand der Zeit. Fürs Inventar interessierte sich inzwischen ein Museum. Mit Computern wollte Henning nie etwas zu tun haben. Da ging ihm alles viel zu schnell. Sandra Stalinski

Sandra Stalinski

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