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Berlin: Herbert Walter Sommer (Geb. 1929)

„Man hatte das Gefühl, alles wird etwas angehoben“

Berlin, Kurfürstenstraße. Das Jahr 1928. Ein junges Dienstmädchen, Selma, schläft mit dem Sohn des Hausherrn. Neun Monate später wird Herbert geboren. Selma und ihr Baby ziehen in ein Heim für ledige Mütter.

Was kann schon aus so einem werden?

Mit drei Jahren lebt Herbert bei einer Pflegemutter, „bei der guten Frau Sachweh“, wie er später in seinen Memoiren schreibt. Das Küchenfenster geht zum Hinterhaus – 1933 beobachtet er Kloppereien, später weiß er: Es waren Kommunisten und SA-Leute.

Der Junge fürchtet sich, auch vor der Brache nebenan. „Dort wurden Kohlen und gebrauchte Gegenstände verkauft. Ich mochte solchen Anblick nicht, ich war ein ängstliches Kind mit einer regen Phantasie, die ins Spukhafte ging.“

Mutter Selma kommt ab und zu, steckt ihn in einen Matrosenanzug, in Lackschühchen und roten Strick. So führt sie ihren Herbert den Tanten vor. Er genießt das. Einmal beobachten sie auf dem Rückweg, wie ein Mann von der Gotzkowskybrücke springt.

Selma heiratet einen Arbeitslosen, das Paar holt den Kleinen zu sich, man lebt in einem Loch in der Fehrbelliner Straße.

Mit fünf kommt Herbert in die Schule, er kann kaum folgen. Ein Halbbruder wird geboren, später zwei weitere Halbgeschwister. Herberts Stiefvater liebt nur seine leiblichen Kinder. Den „Nieselpriem“ prügelt er, bis eine Nachbarin ihn beim Jugendamt anzeigt. Es hagelt trotzdem weiter Kopfnüsse. Herbert wird ständig kontrolliert, zum Schlafen gezwungen. Der geliebte Teddy verbrennt im Ofen. Die Wut wächst.

Als Herbert zwölf ist, fallen Bomben Fehrbelliner/Ecke Choriner Straße. Kinderlandverschickung nach Königsberg. Herbert reist mit Fremden in die Fremde. Vor Ort herrschen minus 20 Grad bei Ostwind und ein HJ-Lagerführer. „Jeder fasste jedem an die Genitalien.“ Herbert, und das will was heißen, bekommt Heimweh. Doch es geht weiter nach Biberach in Österreich.

Nach einem halben Jahr ist er zurück in Berlin. Herbert soll jetzt seine Halbgeschwister betreuen. Die Mutter bringt drei weitere Kinder zur Welt, zwei sterben als Säuglinge.

Mit 14 macht Herbert eine Lehre in der Reichsdruckerei. Endlich wird er auch mal angenommen. Endlich ist er wer. Und er genießt Privilegien: Einmal die Woche darf er ein Bad in der betriebseigenen Badeanstalt nehmen, jeden Morgen nimmt er am Frühsport teil. Seine Kakteenzucht nimmt er mit in die Druckerei, aus Angst, die Mutter könne die Pflanzen wegwerfen. Nicht ganz unbegründet: Der Chemiekasten, an dem er große Freude hat, ist eines Tages einfach verschwunden.

Mit 15 muss Herbert wie seine Halbgeschwister um 19 Uhr ins Bett. Freunde bringt er lieber nicht mit nach Hause, er schämt sich für die Unordnung.

Der Stiefvater, mittlerweile bei der Post tätig, wird von der Waffen-SS eingezogen, zieht sich schnell eine Verletzung zu und kommt ins Lazarett. Die Zeit ohne ihn ist einigermaßen erträglich. Herbert fährt in die Blaubeeren.

Winter 1944 / 45. Schon wieder Fliegeralarm. Der Junge bekommt jedes Mal Durchfall. 100 Meter vom Keller entfernt fällt eine Luftmine, „die mehrere Häuser auf beiden Seiten der Schönhauser Allee wegrasierte. Es war ein unheimliches Beben. Man hatte das Gefühl, alles wird etwas angehoben.“

Als Herbert noch nicht mal 16 ist, trägt er die Uniform der Hitlerjugend und soll im Flakturm Humboldthain Berlin gegen die Russen verteidigen. Um ihn herum brennt alles, Wasser zum Löschen gibt es nicht mehr. Jemand drückt Herbert einen Karabiner in die Hand, er soll vor dem Bunker Wache halten.

Er fragt einen Vorgesetzten, ob er seine Mutter besuchen dürfe. Herbert sprintet durch die Brunnenstraße, rüber in die Anklamer, zur Fehrbelliner – ohne Urlaubsschein. Schüsse peitschen. Die Hausbewohner harren im Keller aus. In den Fenstern ist kein Glas mehr. Wasser gibt es nur noch aus der Pumpe Ecke Schönhauser Allee. Herbert läuft hin, trotz Lebensgefahr. Einer muss es tun.

Dies zieht sich durch seine Memoiren: Wenn Herbert findet, dass ein Zustand nicht zum Aushalten ist, ändert er was. Geht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in den Westen, lässt alles hinter sich. Reist. Lernt Türkisch, als die ersten türkischen Kinder an seine Kreuzberger Schule kommen.

Da ist er 44 und Lehrer, verbeamtet auf Lebenszeit. Er vermittelt den kleinen Neuankömmlingen die Geborgenheit, die er nie hatte. Seine Schüler vergessen ihn nicht: Er ist längst in Rente, als ihn dankbare Ehemalige besuchen.

Herbert baut viele Brücken und reißt manche ein. Er wird mit einigen großen Lieben beschenkt. Zeit seines Lebens pflegt er „tiefe Freundschaften“ mit Max, Andelko, Orhan – zuletzt mit dem verwitweten Lothar, den er in einer Sauna kennengelernt hat. Was kann schon aus so einem werden? Einer, der darüber hinweggekommen ist. Ein sehr oft glücklicher Mensch.

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