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Berlin: Herta Ehl (Geb. 1913)

Wenn ihre Tante sie rügte, erklärte sie: „Ich habe zwei Ohren. Hier rein, da raus.“

Der Bus ist voll!“, brüllte der Fahrer in Richtung der kleinen, blauäugigen Frau mit den drei Söhnen. Bevor die Türen sich schließen konnten, hatte sie ihren Fuß dazwischen gesetzt, einen riesigen Koffer zwischen die fluchenden Fahrgäste gewuchtet und ihre Söhne darauf Platz nehmen lassen. „Sie können losfahren“, rief sie nun.

So war Herta. „Wenn die will, dann willse“, wurde schon geseufzt, als Herta in den Windeln lag. Herta, deren Vater im ersten Weltkrieg gefallen war, wuchs auf in einer Frauen-WG in Berlin-Mitte. Während die Tante in einer Wäscherei arbeitete und die Mutter im Büro einer Zeitung, kümmerte sich die Urgroßmutter um die Erziehung der Enkelin, in der sie ihr eigenes Erbgut wiedererkannte: Eine berüchtigte Mischung aus Intelligenz und Dickköpfigkeit.

„Die muss studieren“, mahnte die alte Dame, und Mutter und Tante nickten ergeben. Herta schrieb sich ein für Nationalökonomie, sang bei den Wandervögeln, las Rosa Luxemburg. Wenn ihre Tante sie dafür rügte, erklärte sie: „Ich habe zwei Ohren. Hier rein, da raus.“

Herta glühte für die SPD, weigerte sich, der Arbeitsgemeinschaft der Nationalsozialisten an der Universität beizutreten, ließ sich zwei Mal verwünschen für die Hausdurchsuchungen, die sie ihren Erzieherinnen bescherte und brach das Studium schließlich ab.

„Wenn die nicht will, dann willse nicht“, waren die Frauen sich einig. Herta arbeitete fortan als Sekretärin und lernte nebenbei ihren Seppl kennen. Der kam aus Österreich, hatte dunkles Haar und eine kräftige Statur, arbeitete als Mechaniker und achtete auf sein Geld. All das fand Herta so exotisch und faszinierend, dass sie in den Heiratsantrag einwilligte. Sieben Jahre später waren die Frauen mit einer weiteren Weltkriegserfahrung beschlagen, sowie um drei Kinder reicher.

Das Trommeln des urgroßmütterlichen Erbguts aber ließ sich durch nichts zum Schweigen bringen. Als ihr jüngster drei Jahre alt war, begann Herta an einer Kreuzberger Hauptschule als Lehrerin. Ihre Charakterstärke brockte ihr die 7 B ein. Das B stand für Berufsfindung. Mehrmals Sitzengebliebene sammelten sich hier, Kinder mit Zeugnissen, die sie besser nicht hinter Klarsichtfolie schoben. Kriegswaisen, Flüchtlings- und Immigrantenkinder. Herta ließ sich weder entmutigen noch einschüchtern. Sie besaß ein Mundwerk Berliner Bauart, eine Waffe, die niemand gerne gegen sich gerichtet sah. Die Schüler nicht, und auch nicht die zahllosen Menschen, die sie vom einzigen Telefon der Schule aus anrief: Sachbearbeiter, Jugendstadträte, Eltern, Betriebsleiter. „Nervensäge“, schimpfte manch einer. „Die Gute“, lobten andere, wenn Herta wieder einmal neue Gelder, Praktika oder Ausbildungsplätze für die Kandidaten der 7 B einwarb.

Mit 54 Jahren begann sie nebenher an der FU Politologie zu studieren, diskutierte mit ihren revolutionären Kommilitonen ohne dabei die Uhrzeit zu vergessen und schloss das Studium erfolgreich ab. Sie stieg zur Konrektorin auf mit besonderer Verantwortung für die 7 B. Manchmal meldeten sich ehemalige Schüler bei ihr, um ihr eine Geburtsanzeige zu schicken, von ihrem Beruf zu erzählen oder sich einfach zu bedanken. Das, die Zigaretten und der Kaffee waren der Treibstoff, den Herta brauchte, um so weiterzumachen, wie sie begonnen hatte: immer gesund, ordentlich und ungeschminkt, mit einem ausgeprägten Sinn fürs Pragmatische und einer instinktiven Abneigung gegen „Pischologie“, wie sie die Seelenbespiegelung nannte.

Die Rente hielt sie geschätzte zwei Tage aus. Dann schrieb sie sich wieder an der Uni ein, diesmal in Soziologie, rief den Schöneberger Sozialstadtrat an und fragte nach Arbeit. Und alles war wie früher. „Herta ist nur gekommen, um gleich wieder zu gehen“, monierte man auf Familienfesten; sie war einfach zu beschäftigt für Sahnetorte und Pischologie. Sie gründete im Haus Bethanien in Kreuzberg eine Behindertengruppe und leitete Gesprächsrunden in Altenheimen.

Mit achtzig zwangen Schlaganfälle sie, im eigenen Wohnzimmer Platz zu nehmen. Doch auch vom Alter ließ das Erbgut sich nicht schwächen. Bis zum letzten Tag blieb Herta bei scharfem Verstand, las Biografien und Geschichtsbücher und diskutierte die Lektüre. Auch nicht der nahende Tod brachte sie aus der Fassung. „Christian“, sagte sie zu ihrem jüngsten Sohn, „ich fürchte, die Vorstellung hier ist bald beendet.“

Viele Briefe erhielten die Kinder, in denen Schüler, Kollegen, Freunde und Betreute Herta für ihren Auftritt applaudierten. Anne Jelena Schulte

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