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Berlin: Höher klettern, schneller denken

Immer mehr Schüler haben kognitive Probleme, weil sie sich nicht bewegen. Das Problem ist erkannt, aber es ändert sich zu wenig

Die Mädchen und Jungen der 5a in der James-Krüss-Grundschule in Tiergarten sind nicht zu bremsen. Sie klettern, kraxeln und balancieren um die Wette, keine Kletterwand ist zu hoch, kein Holzsteg zu schmal. Dass es regnet, ist völlig egal. Denn das hier, der neue „Bewegungsparcours“ ist ihre Sache. Die Anlage ist zwar für alle Kinder und zu jeder Tageszeit zugänglich, aber die James- Krüss-Grundschüler durften ihn mitplanen und -aufbauen. Der Verein Moabiter Ratschlag hat das Projekt „Kids in Bewegung“ ins Leben gerufen. Mit dem Bezirksamt Mitte und Geldern aus einem EU-Topf haben sie die vermüllte Brache zwischen der James-Krüss-Grundschule und der Moses-Mendelssohn-Oberschule in ein 7000 Quadratmeter großes Trimm-dich-Gelände für Kinder verwandelt.

Die Kletterspinne, die Rad- und Skaterbahn, die Riesen-Schaukeln, Balanciermauern und das Fischteichlabyrinth sollen Kindern Lust machen, sich zu bewegen. Denn daran mangelt es immer mehr. Sportwissenschaftler der Humboldt-Universität haben herausgefunden, dass sich Kinder am Tag durchschnittlich eine Stunde bewegen, davon nur 15 bis 30 Minuten intensiv. Außerdem werden die deutschen Kinder immer dicker. Innerhalb der vergangenen 25 Jahre hat sich das durchschnittliche Körpergewicht über alle Altersstufen hinweg um zwei Kilo erhöht. Beides zusammen ist alarmierend. Denn ein Drittel der Berliner Kinder, das sind etwa 70000, weist bei den Untersuchungen zur Einschulung Entwicklungsstörungen auf, sagt der Kinder- und Jugendarzt Ulrich Fegeler. Die Erstklässler sind motorisch, sprachlich und kognitiv zurückgeblieben.

Bei der Hälfte sei das genetisch bedingt, bei der anderen Hälfte liege es daran, dass sie sich zu wenig bewegen und sich niemand mit ihnen beschäftigt. Was Kinder früher täglich hunderte Male unbewusst trainiert haben, laufen, springen und den Rumpf zu beugen schaffen sie heute nicht mehr ohne weiteres. „Sie können zum Beispiel nicht mehr auf einem Bein balancieren, keine Stifte in der Hand halten und haben Schwierigkeiten, sich zu artikulieren“, sagt Fegeler.

Viele Bezirke, die Gesundheits-, Sport- und Stadtentwickungssenatoren und private Initiativen haben das Problem erkannt und beginnen allmählich, hier und da Lösungen zu finden. Zum Beispiel veranstalten 30 ausgewählte Kitas mit ihren Kindern besondere Trainingsprogramme, der Landessportbund informiert Erzieherinnen, mit welchen Methoden man Kinder zum Laufen motivieren kann. Im November werden 150 zufällig ausgewählte Berliner Kinder bis 18 Jahre im Rahmen der bundesweiten Kiggs-Studie untersucht, die auch motorische Fähigkeiten testen will.

Die Logopädin Cornelia Steinauer behandelt in ihrer Weißenseer Praxis über hundert Kinder, die ihre frühkindlichen Reflexe aufgrund mangelnder Bewegung nicht abgebaut haben. Jeder Schritt in der Entwicklung eines Kindes habe eine wichtige Aufgabe. Zum Beispiel das Krabbeln. „Wenn ein Kind nicht krabbelt, lernen die Gehirnhälfen nicht, richtig zu kreuzen. Das logisch-mathematische und das semantische Denken werden nicht verbunden. Daraus entstehen Entwicklungsprobleme“, sagt Steinauer. In ihrer Therapie trainiert sie auch mit älteren Kindern noch einmal alle Bewegungsstufen, angefangen mit der embryonalen Lage, in der ihre Patienten die Beine ausstrecken und anziehen müssen. „Es ist so einfach, aber die Menschen wissen darüber zu wenig.“

Eltern müssten mit ihren Kindern mehr sprechen und lesen oder ins Freie gehen, sagen Kinderärzte. Was zu Hause versäumt wird, fangen Kindergärten und Schulen nicht auf. Die Kindergärten würden nicht genügend Anreize bieten, sagt Ulrich Fegeler. „Sie sind zum großen Teil mehr oder weniger Verwahranstalten.“ Anke Otto, Jugendstadträtin in Steglitz-Zehlendorf, wehrt sich gegen den Vorwurf. „Das Problem Bewegungsmangel ist bekannt.“ Vor allem in so genannten Integrationskitas, die behinderte Kinder aufnehmen, seien Therapeuten im Einsatz. „Aber ich weiß, dass wir die Bemühungen verstärken müssen.“

Die 5a der James-Krüss-Schule hat den Kletterfelsen selbst ausgemeißelt. Wo heute Kinder auf der Drehscheibe zappeln, stand früher eine verrostete Dampflok. „Das hat immer schrecklich gestunken“, sagt die zehnjährige Zeynep Yildiz. Kaum ist der neue Parcours eingeweiht, haben die Schüler neue Ideen: „Reckstangen!“. „Eine Half Pipe!“ „Eine Tunnelrutsche in Spiralform!“ Ihr Sportlehrer Dirk Plümer freut sich über den neuen Spielplatz. Aber das sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Schulbehörde hätte schon längst viel mehr machen müssen. „Untersuchungen über Bewegungsmangel liegen schon seit 20 Jahren vor. Und jetzt reduziert man noch die Zeiten für den Schwimmunterricht.“

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