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In einer Halle der Tuchfabriken in Forst gammeln auch Wollreste vor sich hin.

© Heike Jahberg

Hoffnung für alte Tuchfabriken in der Lausitz: Der Stoff, aus dem die Träume sind

Anett Dörl hat im brandenburgischen Forst zwei Industrieruinen gekauft. Mit dem Gelände hat sie Großes vor.

Eine Frage hört Anett Dörl häufig. Ob sie verrückt sei, wollen die Leute wissen. Denn welcher Mensch, der seine Sinne beisammen hat, bindet sich ein Gelände ans Bein, auf dem sich zwei riesige Fabriken dem Verfall entgegenstemmen und eine alte Direktorenvilla mit Säulen Eindruck schindet, aber kein intaktes Dach mehr hat?

Doch die junge Frau ist nicht verrückt. Sie ist vielleicht wagemutiger als die meisten, auf jeden Fall aber zeichnet sich die 35-Jährige durch enorme Tatkraft aus. Ihr Ziel: Sie will die einstigen Tuchfabriken retten und auf dem Gelände etwas Neues schaffen. Eine Naturbühne hat sie schon gebaut, das erste Konzert – Blues – war ein Erfolg. Aus der Fliegerhalle mit ihrem gebogenen Dach und dem Rundblick über die Stadt Forst und die nahegelegene polnische Grenze will sie eine Party- und Eventlocation machen.

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Die Brandenburgerin will kleinen Gewerbetreibenden ein Zuhause geben, Start-ups Arbeitsplätze anbieten. Und möglicherweise könnten eines Tages auch Wohnungen in den geräumigen Lofts entstehen. Mit einem Textilhändler aus Lübeck ist sie im Gespräch, der vielleicht die eine oder andere Etage für seinen Onlinehandel nutzen möchte.

Anett Dörl hat das Gelände für relativ kleines Geld gekauft und will es mit ihrer Firma Gründer- und Traumfabrik Forst GmbH entwickeln.
Anett Dörl hat das Gelände für relativ kleines Geld gekauft und will es mit ihrer Firma Gründer- und Traumfabrik Forst GmbH entwickeln.

© Heike Jahberg

Ein normaler Investor würde Geld in die Hand nehmen und Firmen beauftragen. Doch die Millionen, die man dafür bräuchte, hat Dörl nicht. „Ich kann nur das Geld investieren, das ich einnehme“, sagt sie. Und das sind gerade einmal 1500 Euro im Monat.

Die Einnahmen kommen von Mietern, die Lagerflächen brauchen. Ein Caravan parkt bei ihr, eine Möbelpolsterfirma hat sich eingemietet, eine Estrichmaschine ist untergestellt. Auf dem Gelände lagert Erde, die beim Kanal- und Straßenbau in der Nachbarschaft stört. Geld kommt auch von Touristen, die die Forster Feintuchwerke als „Lost-Place“-Tour buchen und melancholisch-schöne Fotos von den menschenleeren Räumen schießen, in denen noch Wollreste zu sehen sind, vom letzten, intakten, historischen Industrieschornstein in Forst oder der kleinen Birke, die versucht, in der Fliegerhalle zu einem Baum heranzuwachsen. Der Verfall zieht an.

Blick in einem Halle der verlassenen Tuchfabriken von Noack und Bergami in Forst.
Blick in einem Halle der verlassenen Tuchfabriken von Noack und Bergami in Forst.

© Heike Jahberg

Im 19. Jahrhundert ratterten hier die Webstühle der Arbeiter, die für die Industriellen Adolf Noack und Hermann Bergami Stoffe produzierten. Forst, der kleine Ort an der Neiße, war einst eine stolze Textilmetropole. 1895 stellten hier 200 Fabriken Stoffe her, 1920 trug jeder fünfte Mensch in Deutschland einen Anzug aus Forster Tuch. Die Stadt an der Lausitz galt als das deutsche Manchester. Die Forster Stadteisenbahn sorgte ab 1893 für die nötige Logistik, Heizkraftwerke versorgten im 20. Jahrhundert die Fabriken mit Strom, die Kohle kam aus den Braunkohlerevieren in der Region.

Selbst zu DDR-Zeiten lief das Tuchgeschäft noch gut. Die 3000 Beschäftigten der VEB Tuchfabriken Forst produzierten unter anderem für C & A. Doch nach der Wende war Schluss. Heute stellt ein bayerisches Unternehmen in einer Zweigstelle Garne für Lodentrachten her, eine zweite Firma fertigt Posamenten, das sind die fransigen Stoffbommel an Gardinen und Möbeln.

Für 20 000 Euro kaufen Anett Dörl und ihre Mutter Ende 2015 dem Berliner Bankhaus Löbbecke das Gelände ab, seit Januar vergangenen Jahres gehört es der Tochter allein. Größe schreckt sie nicht, das hat sie im elterlichen Betrieb gelernt. Die Mutter betreibt eine Heizkesselfirma auf einem ebenfalls recht großen Firmengelände. 13 Jahre lang ist Anett, die gelernte Industriemechanikern, dort Produktionsleiterin. Doch mit dem Ausstieg aus der Braunkohle ist das ein sterbendes Geschäft, anders als die Tuchfabriken. Die sollen ein Leuchtturmprojekt für die Region werden. Und sie sollen etwas sein, das ihren Kindern bleibt. Dörl ist dreifache Mutter. „Ich möchte meinen Töchtern etwas bieten“, sagt sie.

Blick aus einem zerstörten Fenster auf die verlassenen Tuchfabriken von Noack und Bergami: Das Areal ist bei Fans von "Lost Places" beliebt.
Blick aus einem zerstörten Fenster auf die verlassenen Tuchfabriken von Noack und Bergami: Das Areal ist bei Fans von "Lost Places" beliebt.

© Heike Jahberg

Ohne Eigeninitiative ist das schwer in der strukturschwachen Region. Gut 18.000 Menschen leben in Forst, die Arbeitslosenquote liegt zwischen 8,5 und 9,5 Prozent. 200 bis 300 Menschen arbeiten noch beim Braunkohleproduzenten Leag, vergleichsweise gut bezahlte Jobs sind das, sagt Simone Taubenek. Mit dem Kohleausstieg fallen sie weg,

Seit Mai 2018 ist die Volljuristin Bürgermeisterin in der Stadt. Kein leichter Job. Forst hat 40 Millionen Euro Schulden, für die Stadt besteht ein Haushaltssicherungskonzept, eine Art finanzieller Hausarrest. „Wir dürfen Geld nur für Aufgaben ausgeben, zu denen wir verpflichtet sind“, sagt Taubenek. Bei den letzten Wahlen zum Kreistag und zur Stadtverordnetenversammlung erzielte die AfD 30 Prozent der Stimmen, Simone Taubenek ist parteilos.

Die alte Fliegerhalle auf dem Gelände der Tuchfabriken. Kann man sie für Veranstaltungen herrichten - oder als Großraumbüro?
Die alte Fliegerhalle auf dem Gelände der Tuchfabriken. Kann man sie für Veranstaltungen herrichten - oder als Großraumbüro?

© Heike Jahberg

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Zu den wirtschaftlichen Hoffnungsträgern der Stadt zählen die Mittelständler, die noch da sind, die Lausitz Klinik Forst, und auch die Kreisverwaltung schafft Arbeitsplätze. Touristen besuchen die Stadt wegen des berühmten Rosengartens – in dessen Nähe übrigens Anett Dörl auch noch Ferienwohnungen vermietet – oder radeln auf dem Oder-Neiße-Radweg. Als Ausgleich für den Strukturwandel hat Taubenek eine 55 Hektar große Fläche vorgesehen, die sie zum Industriegebiet machen will. Bisher hat sie bei den verschiedenen Gremien, die zustimmen müssen, grünes Licht bekommen, doch der Prozess läuft noch. Allerdings gibt es noch niemanden, der sich dort ansiedeln will.

Simone Taubenek, parteilose Bürgermeister der Stadt Forst (Lausitz), kann das Projekt allenfalls indirekt unterstützen. Geld stellt die Hüterin der klammen Stadtkasse nicht bereit.
Simone Taubenek, parteilose Bürgermeister der Stadt Forst (Lausitz), kann das Projekt allenfalls indirekt unterstützen. Geld stellt die Hüterin der klammen Stadtkasse nicht bereit.

© Christian Swiekatowsk

Vor Dörl hat die Bürgermeisterin Hochachtung. „Sie hat schon sehr viel gemacht“, sagt Taubenek und lobt den Idealismus, die Motivation und die Kraft der jungen Frau. „Das Ganze wird noch viel Geld und Zeit kosten“, glaubt sie. Eine finanzielle Unterstützung der Stadt bekommt Dörl jedoch nicht. Dazu fehlt es am Eigenkapital. Man braucht Geld, um Geld zu erhalten. Dass Dörl das durch harte Arbeit ausgleicht, reicht nicht.

Die Entwicklerin lässt sich davon nicht schrecken. Sie packt an. Der Müll ist weg, die Bäume auf dem Gelände sind gerodet. Ein Schuppen wurde weggerissen, um die Naturbühne zu bauen, sogar eines der Dächer ist schon fertig. Ohne Hilfe geht das nicht. Unterstützung kommt von Freunden und von der Familie. Die Baufirma, die ihre Erde bei ihr lagert, hilft schon mal mit Gerät.

„Man kennt sich, und man hilft sich“, erzählt die Unternehmerin. Ein bisschen DDR schwingt da mit. Auch wenn sie von den Steinen aus den Ruinen spricht, mit denen man ja wieder Neues bauen kann. Ein Bekannter setzt Scheiben ein, ein Industriekletterer aus Forst repariert den Schornstein, damit dort später Kletterer ihren Spaß haben können. Man grillt zusammen und schmiedet bei Radler und Burger Pläne. „Das kann man nur mit ein paar Verrückten machen“, sagt Dörl.

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