zum Hauptinhalt
Stolpersteine in Charlottenburg. Sie erinnern an diejenigen Bewohner, denen die Flucht nicht mehr gelang.

© Kai-Uwe Heinrich

Holocaust-Gedenktag: Noch einmal im Berliner Zimmer

In der Charlottenburger Wohnung unseres Autoren hörte Helen 1938 die SA brüllen. Die jüdische Familie floh bald darauf aus Deutschland. Viele Jahre später kehrte sie noch einmal nach Berlin zurück.

Vielleicht ist es ein kleiner Hoffnungsfunken in diesen eher trüben Zeiten. Bei den britischen Buchmachern stehen die Wetten 10:10, also pari, wenn es um die Frage geht, ob Präsident Trump das Ende seiner Amtszeit tatsächlich im Weißen Haus erlebt. Aber eigentlich will ich nicht über den narzisstischen Nationalisten, den Narzi, schreiben. Sondern eine andere, im Ansatz traurige, am Ende jedoch tröstliche Geschichte erzählen.

Es geschah vor zehn Jahren, in Berlin-Charlottenburg. An einem Samstagvormittag wollen meine Frau und ich uns gerade zum Markt am Karl-August-Platz aufmachen. Ein Anruf verzögert den Aufbruch kurz, und nur deshalb sind wir erst dabei, das Haus zu verlassen, als draußen an der Tür ein seriös wirkender Herr die Klingelschilder liest und hilfesuchend durchs Türglas hereinschaut.

Wir öffnen und fragen, ob wir ihm helfen können. Da nennt der Herr seinen Namen, er sei Anwalt und betreue im Rahmen eines Senatsprogramms den Berlin-Besuch einer älteren Dame und ihres Gatten aus New York. Die Dame, Mrs. Helen A., stamme ursprünglich aus Berlin. Man sei schon in der Oper gewesen, habe eine Dampferfahrt auf der Spree gemacht, und es gab einen Empfang beim Regierenden Bürgermeisters im Roten Rathaus. Nun versuche Mrs. A. noch, ihr Geburtshaus wiederzufinden. Das sei ihr Herzenswunsch.

Die SA klingelte - am selben Abend beschloss die Familie die Flucht

Natürlich bitten wir die betagten, bislang im Auto wartenden Eheleute aus New York mit dem Anwalt herein. Mrs. A. glaubt, im Hausflur den hundert Jahre alten Lift mit der schmiedeeisernen Tür und der originalen Holzkabine zu erkennen. Ja, hier müsse es wohl gewesen sein. Wir sprechen nun wechselnd Englisch und Deutsch. In welchem Stockwerk sie mit ihrer Familie einst gewohnt hatte, weiß Helen A. nicht mehr genau, aber sie hätten damals, „before the war“, über die Baumwipfel geschaut. Inzwischen sind die großen Platanen weiter gewachsen.

Doch sie erinnert ein, zwei unverwechselbare Details, zudem ein Zimmer mit Erker, und wir merken: Helen A., die kleine, an einem Silberknaufstock gehende Dame mit dem vollen weißen Haar, eleganter Garderobe und einem noch immer schönen Gesicht, meint unsere Wohnung.

Also bitten wir sie und ihre beiden Begleiter hinauf zu uns. Sie schaut sich in der Wohnung um, lächelt, möchte dann gerne in das große Erkerzimmer am Ende des Flurs. Es war bei unserem Einzug im Jahr 1998 das Zimmer des jüngsten Sohnes gewesen, wir nennen es weiterhin Kinderzimmer. Und Helen A., die einst Hella Fortgang hieß, setzt sich an den Tisch unseres Sohnes und sagt: „Es war das Kinderzimmer von mir und meiner Schwester.“

Dann deutet sie zum Fenster nach draußen. Dort unten auf der Straße seien damals, im November 1938, SA-Leute vorbeimarschiert und hätten „Juda verrecke!“ gebrüllt. An jenem Tag waren die beiden Fortgang-Töchter mit einem Kindermädchen allein in der Wohnung, die Eltern hätten gerade Bekannte im nahen Hotel Kempinski getroffen. Dann habe die Türklingel geläutet, schrill, mehrmals, während die Mädchen ganz still blieben. Schließlich sei der SA-Trupp weitergezogen – und die Eltern beschlossen am selben Abend noch die Flucht aus Deutschland.

Die Familie gelangte zuerst nach Holland und später ins belgische Antwerpen, wo der Vater noch als Diamantenhändler tätig war. Nach Kriegsbeginn ging es auf einem Lkw durch Frankreich und nachts über die spanische Grenze, dann weiter nach Lissabon, wo die Familie nach einem halben Jahr ein USA-Visum bekam. In New York habe man einige Jahre in einer Einzimmerwohnung gelebt, erst Wiedergutmachungszahlungen aus Deutschland hätten ein wenig geholfen.

Ob das Ehepaar aus New York noch lebt?

Mister A., der nicht Deutsch spricht, nickt dazu. Er ist Psychoanalytiker in Manhattan, mit 82 Jahren noch praktizierend. Ein glatzköpfiger Herr, der irgendwann auf seine Frau zeigt und erklärt: „I am her fifth husband!“ Nun lachen wir alle, auch Helen, die nach 69 Jahren in ihr Berliner Zimmer zurückgekehrt ist.

Das war 2007. Ob sie jetzt noch leben? Auch Jann Fiedler, der Betreuer damals, jahrelang Vizepräsident der Berliner Anwaltskammer und Mitglied der Evangelischen Landessynode, weiß es nicht.

Nun ist Holocaust-Gedenktag. Und das Bundesverfassungsgericht hat die NPD gerade für verfassungsfeindlich, aber nicht verbotswürdig erklärt. Sie sei noch zu ungefährlich. Das freilich hat die Logik von Eltern, die ihr Kind mit einer Flasche voll Gift spielen lassen, weil es ja noch zu schwach sei, den Verschluss zu öffnen.

Zur Startseite