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Berlin: Horst Czock, geb. 1939

Die letzten Worte seiner Abschiedsrede widmet Horst Czock seinem Arbeitgeber: "Wirst du aber den Herrn, Deinen Gott, vergessen und anderen Göttern nachfolgen und ihnen dienen und sie anbeten, so bezeuge ich Euch heute, dass Ihr umkommen werdet." Ein Bibelvers, 5.

Die letzten Worte seiner Abschiedsrede widmet Horst Czock seinem Arbeitgeber: "Wirst du aber den Herrn, Deinen Gott, vergessen und anderen Göttern nachfolgen und ihnen dienen und sie anbeten, so bezeuge ich Euch heute, dass Ihr umkommen werdet." Ein Bibelvers, 5. Buch Mose, 8. Kapitel.

Eines Tages im Sommer 1997 hatte der Brief im Kasten gelegen. Der Brief, von dem Horst Czock nie gedacht hatte, dass er kommen würde. Lange war klar: Am liebsten würden sie ihn entlassen. Allerdings rumorte nun seit fast 15 Jahren eine seltene, überaus gemächlich verlaufende Abart der Leukämie durch seinen Körper. Das hatte ihm den Status "schwerbehindert" eingebracht, was mit gewissen Schutzauflagen verbunden war. Einem Schwerbehinderten durfte nur kündigen, wer den Staat um Erlaubnis bat. Dass sich sein Arbeitgeber diese Blöße geben würde, hätte Czock nicht gedacht.

Jetzt stand es da: "Antrag an die Hauptfürsorgestelle der Senatsverwaltung Berlin auf Zustimmung zur Kündigung des schwerbehinderten Mitarbeiters". Er sollte sich zur Anhörung einfinden. Termin: Übermorgen. Ort: Bachstraße 1, Saal 9, im Haus seines Arbeitgebers, der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg.

Horst Czock arbeitete seit 28 Jahren für die Kirche, als Industriediakon beim "Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt" (KDA). Der war nach dem Krieg gegründet worden, als eines der wenigen Reformprojekte des deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert. Anlass war die Beobachtung gewesen, dass schon länger kaum noch Arbeiter in die Kirche kamen. In Berlin gingen deshalb seit 1951 Leute um den Pastor Harald Poelchau den umgekehrten Weg, den an die Werkbank, in die Betriebe. Czock erlebte Poelchau noch drei Jahre als Chef der KDA Berlin. Drei Jahre, die ihn prägten. Poelchau, den ehemaligen Widerstandskämpfer und Plötzenseer Gefängnispfarrer, hörte Czock stets mahnen, "Ohr zu sein am Mund der Stummen".

Bizeps gegen Stahl-Lineal

Vor seiner Ausbildung zum Diakon hatte Czock Maschinenschlosser gelernt. Er wusste, worum es ging, wenn vom "Feilen" die Rede war. Oder vom "Lehrlinge Schinden". Er hatte erlebt, dass man nicht sprach über Kopfschmerzen am Arbeitsplatz, und deshalb nie erfahren konnte, dass Kollegen der gleiche Schmerz plagte. Czock veranstaltete Bildungsseminare, Ausflüge und versuchte die an einen Tisch zu bringen, die mit der Ausbildung zu tun hatten: Den autoritären Lehrmeister, der mit Stahl-Linealen auf Finger schlug. Den Lehrling, der auch zwei Meter groß sein und dem zierlichen Ausbilder bei Streitigkeiten seinen tätowierten Oberarm zeigen konnte. Den Arbeitgeber, der sich nur ungern mit Fragen der Arbeitsbedingungen oder der Lehrplangestaltung beschäftigte. Auch fuhr Czock regelmäßig mit Lehrlingen nach Coventry, England. Das war nicht so gewöhnlich, in den sechziger und siebziger Jahren. Junge Arbeiter reisten im Urlaub an den Wannsee, oder nach Mallorca, höchstens. Von Leben und Arbeit in einem anderen Land zu lernen, sich mit dem Fremden, immer noch Feindlichen zu versöhnen, das gab es nicht.

Czock war einer der ersten gewesen, die in den sechziger Jahren angefangen hatten, Fragen zu stellen: Nach dem, was zwischen 1933 und 1945 war; nach dem Sinn von Aufrüstung und kaltem Krieg; den Ursachen von Chauvinismus, Abhängigkeit und Ausbeutung. Czock war kein Straßenkämpfer, er war Christ und Sozialist, und versuchte, in diesem Sinne Menschen zu sensibilisieren, zu bilden.

Einmal musste er sich einer "Visitation" unterziehen. Da lief eine "Synodalfrau", eine Vertreterin des Berliner Kirchenparlaments, mit ihm durch die Produktionshalle von Daimler-Benz. Sie wollte wissen, was er so machte, den ganzen Tag. Die Besichtigung war schnell vorüber. Die Dame schlug die Hände überm Kopf zusammen: "Mein Gott! Wie kann man bei dem Lärm Verkündigung machen?"

Man kann es; wenn einem der Sinn nicht nach Gehaltszuwachs und Karriere steht. Die kirchliche Vergütungsordnung erlaubte Horst Czock zwei Beförderungen in 28 Jahren. Sie verbot ihm nicht die Arbeit am Morgen, am Mittag und in der Nacht, am Montag und am Sonntag, auch nicht zu Ostern und in den Ferien. Aber das war gut für Horst Czock. Einerseits.

Seit ihm die Ärzte 1982 gesagt hatten, dass er eine seltene Blutkrebs-Variante habe, war ihm die Arbeit immer wichtiger geworden. Seine Krankheit, hieß es, ließ Männern über 40 eine gute Chance, an Altersschwäche zu sterben. Wenn sie nur den Mut nicht sinken ließen und sich mit der hohen Infektionsanfälligkeit und den regelmäßigen Bluttransfusionen arrangierten. Zu Kollegen sagte Czock, dass es "nur die Arbeit ist, die mich am Leben hält".

Andererseits trug ihm die Inbrunst, mit der er sich ihr widmete, mindestens eine private Katastrophe ein. Ursula, Tochter eines Pfarrers, Krankenschwester und seine Frau, war nach der Heirat 1969 erstmal zu Hause geblieben, hatte 1970 David geboren und 1979 Judith. Ihren Mann hatte sie selten zu Gesicht bekommen. 1983 beschloss sie, sich weiterzuentwickeln. David blieb beim Vater, Judith zog bald darauf zur Mutter.

Mitte der achtziger Jahre trat immer offener zutage, was sich schon länger angedeutet hatte. Dass Czock und Kollegen Dinge taten, die dem Konsistorium, der Kirchenverwaltung, nicht gefielen. Sollte man sich, statt sich in Workshops über "Alkohol am Arbeitsplatz" und "Abrüstung" zu verlieren, nicht besser der Exegese der Heiligen Schrift widmen? Brachte es etwas ein, mit jungen Menschen jahrelang herumzudiskutieren, ohne dass sie an den Eintritt auch nur dachten? Trug sich das finanziell?

Czock musste anfangen, Statistiken zu schreiben. Zu beweisen, dass seine Arbeit Früchte trug. Seine Erträge aber waren nicht quantifizierbar. Trat jemand, bewegt von einer Veranstaltung, einer Reise, einem Gespräch, in eine Berliner Kirchgemeinde ein, bekam Czock das in den seltensten Fällen mit. Er konnte nur aufschreiben, wie viel junge Leute in einem Jahr durch das Haus der KDA-Industriejugend liefen: fünftausend, sechstausend, manchmal achttausend.

Dem Konsistorium war das nicht genug. Aber vielleicht sollte es das ja auch gar nicht sein. Der KDA galt vielen Kirchenoberen als Stachel im eigenen Fleisch: Zu weltlich, links und kritisch. Die Oktobersynode des Jahres 1995 beschloss, seine Mittel um 50 Prozent zu kürzen. Im Oktober 1996 dann fiel die Entscheidung, den Finanzposten "KDA" ganz aus dem Kirchenhaushalt zu streichen. Dass sich seine Kirche das antat, konnte Czock nicht verstehen. Traurig war er, und gekränkt. Zu seinem Seelsorger sprach er davon, dass niemand die erteilten Aufträge in "würdiger Form zurückgenommen" habe, niemand da war, der "das Gewesene ehrte", und den Beteiligten danke.

Kein Aktionärshaufen

Noch ging er davon aus, dass man ihn weiterarbeiten ließ, für die Evangelische Berufsschuljugend oder einen anderen Dienst.Nach all den Jahren; bei seiner Krankheit;und nicht zuletzt: Es war immer noch die Kirche, kein Haufen zahlenbessener Aktionäre. Eine ganze Zeit ließ man Horst Czock in diesem Glauben in seinem mit Papier vollgestopften Büro im Souterrain des Hauses in der Frankenallee sitzen. Bis zu dem Sonnabend im Frühsommer 1997, als man ihn aufforderte, sich zur Anhörung betreffs "Kündigung des schwerbehinderten Mitarbeiters" einzufinden.

Zwei Wochen später erhält Horst Czock die Nachricht, dass die Hauptfürsorgestelle zu seinen Gunsten entschieden habe. Später hört er von der Absicht der Kirchenverwaltung, gegen dieses Urteil mit Widerspruch oder Klage vorzugehen. Irgendwann entschließt sich das Konsistorium zu einem Vergleich. Es schlägt Czock vor, mit dem 60. Lebensjahr aufzuhören. Er bedingt sich aus, ehrenamtlich weiterarbeiten zu dürfen, mit etwas Geld für das, was er an Briefmarken, Telefongebühren und Benzin verbrauche. Man stimmt zu. "Sie haben mir ein Angebot gemacht, dass ich nicht mehr ablehnen kann", schreibt Horst Czock einer Freundin.

Kurz nach seinem 60. Geburtstag fängt er an zu rauchen. Das hatte er sich einmal mühsam abgewöhnt. Angelika Nette, die ihn in seinen letzten Jahren begleitet, versucht, ihn davon abzuhalten. Er antwortet: "Ach, lass mich. Ich will das tun." 18 Monate später stirbt er, schon stark geschwächt, an den Folgen einer Lungenentzündung.

1996 war auf seine Initiative das "Forum Arbeit e.V." gegründet worden. Es besteht weiter und veranstaltet, gefördert vom Land Brandenburg, Antifaschismus-Seminare mit Lehrlingen.

Rico Czerwinski

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