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Berlin: Horst Riedel, geb. 1915

Es ist der erste Januar 1990, Horst Riedel sitzt mit seiner Frau und dem längst erwachsenenen Sohn im Mercedes. Im Wagen liegen zwei Flaschen Rotwein, es geht zum Potsdamer Platz, über Brachland.

Es ist der erste Januar 1990, Horst Riedel sitzt mit seiner Frau und dem längst erwachsenenen Sohn im Mercedes. Im Wagen liegen zwei Flaschen Rotwein, es geht zum Potsdamer Platz, über Brachland. Den Wein schenken die Riedels einem Grenzsoldaten. Die DDR heißt bei ihnen schlicht "Ostzone". Horst Riedel ist erleichtert - die "Ostzone" würde es von nun an nicht mehr geben. Er hasst das "Terror-Regime" und glaubt an ein schnelles Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten.

Ein paar Jahre später steht Horst Riedel auf dem Balkon der Philharmonie. Er blickt umher, mustert die riesigen Bauten vom Potsdamer Platz, das "neue Berlin". "Gigantomanie", findet er. "Das passt nicht zusammen." Die Philharmonie, seine Philharmonie, sieht plötzlich ganz klein aus.

Horst Riedel ist Musikalienhändler. Sein Geschäft in der Uhlandstraße ist bis an die Decke vollgestopft mit Notenbüchern und Partituren, Instrumenten und Zubehör. Bekannte Leute gehen ein und aus, Orchester aus Südafrika und Amerika bestellen bei Horst Riedel in Berlin. Für jeden hat er ein gutes Wort, berät kenntnisreich, verkauft lieber nichts als das Falsche. Er macht keinen Unterschied, jeden Kunden behandelt er gleich. Einmal kommt ein Student und sagt: "Wenn ich diese Noten kaufe, weiß ich nicht, wovon ich heute mein Essen bezahlen soll." Horst Riedel verschenkt keine Partituren, er ist ein ausgezeichneter Geschäftsmann. Aber nach Ladenschluss sitzt der junge Musiker bei Riedels am Tisch und isst.

Für seine Angestellten ist Horst Riedel eine Leitfigur, das große Vorbild. Seine Auszubildenden wählt er sehr genau aus. Ehrlich müssen sie sein, sicher im Ausdruck, begeistert von klassischer Musik, ordentlich, freundlich - und sauber und gepflegt. Überhaupt der Nachwuchs: Dass aus jungen Leuten gute Musikalienhändler werden, das liegt Horst Riedel am Herzen: Er schreibt ein Lehrbuch und ist jahrelang Vorsitzender einer Prüfungskommission in der Industrie- und Handelskammer.

Das Geschäft ist Horst Riedels Leben, jeder Quadratzentimeter erzählt Familiengeschichte. 1910 gründet sein Vater die Musikalienhandlung, der Sohn übernimmt sie, arbeitet mit der Ehefrau Hildegard im Geschäft. Jetzt stehen Horst Riedels Sohn und sein Enkel hinter dem Tresen.

Horst Riedel ist ein Preuße - pflichtbewusst, pünktlich, protestantisch. Mit Akribie hilft er nach dem Krieg, die Musik in Berlin neu aufleben zu lassen. Im British Centre organisiert er Kammerkonzerte, statt des Eintrittsgeldes geben einige Zuhörer Kohlebriketts ab, damit der Raum beheizt werden kann. Riedel gründet die Gesellschaft der Freunde der Philharmonie, wird Vorstandsmitglied. Die Musikalienhandlung baut er wieder auf, besorgt auf den abenteuerlichsten Wegen Noten und Instrumente. Die Kontakte seines Vaters helfen dabei. Für die neue Amerika-Gedenk-Bibliothek beschafft er große Teile der Musik-Abteilung.

Riedel kauft ein Motorrad mit Beiwagen, damit brausen er und Hildegard durch die zerstörte Stadt. 1949 kommt die Tochter Jutta zur Welt, 1950 der Sohn Hans-Wolfgang. Einmal im Jahr packen die Riedels von nun an ihre Koffer und fahren in den Schwarzwald, immer in die Pension "Waldeck".

Als der Sohn eines Tages eine Spielzeug-Pistole haben will, wird der Vater wütend - Kriegsspielzeug kommt nicht ins Haus. Horst Riedel war in Stalingrad, er war vor Moskau, er weiß, was Krieg ist. Ein Pazifist ist er deshalb nicht: Das Militär sei nicht nur zur Verteidigung der Nation von Wert, sondern auch als Ausbildungsstätte für junge Männer: "Wer befehlen will, muss erst Gehorsam lernen." Horst Riedel ruft auch aus den Ferien regelmäßig im Geschäft an.

Als - angenehme - Pflicht empfindet es Horst Riedel, guten Bekannten und Freunden "in der Ostzone" zu helfen. Einer, ein Dirigent, fährt einen Ford, für den es in der DDR keine Ersatzteile gibt. Horst Riedel schmuggelt in vielen Touren eine komplette neue Auspuffanlage hinüber, Stück für Stück. Für einige Musiker, die hin und wieder im Westen arbeiten dürfen, aber ihr Westgeld in Ostmark umtauschen müssten, führt Riedel in seinem Geschäft Westmark-Konten. Und wenn es der Musik dient, dann hilft Horst Riedel auch mal einer Ost-Berliner "Einrichtung": Für die Komische Oper bestellt und empfängt er Noten eines Westkomponisten und händigt sie dem Emissär der Ost-Oper aus. Hätte die sich die wertvollen Papiere direkt zusenden lassen, hätte das Ganze durch Zoll- und Kontrollformalitäten ewig gedauert.

Horst Riedels große Stunde kommt, als er Anfang der siebziger Jahre einen Anruf aus Amerika bekommt. Ein ehemaliger Philharmoniker möchte seinen Kollegen fünf wertvolle Streichinstrumente schenken, darunter eine Stradivari. Die Zollgebühren kosten ein kleines Vermögen, das die Philharmonie nicht aufbringen kann. Riedel streckt das Geld vor, bringt es mit seinem Opel Rekord zum Zollamt Schöneberg und fährt mit den millionenteuren Instrumenten in die Uhlandstraße zurück. Bevor er die Raritäten unter dem Ehebett versteckt, lässt er seinen Sohn im Hinterzimmer des Geschäfts auf der Stradivari spielen.

Horst Riedel spielt auch selbst Geige. Nicht passioniert. Seine Leidenschaft ist das Geschäft, das mit der Zeit zum Dreh- und Angelpunkt der Berliner Komponisten- und Interpretenszene wird.

Richtig in Pension geht Horst Riedel nie. Selbst von seinem Alterswohnsitz in Kleinmachnow aus beobachtet er den Familienbetrieb. Auch die politische Entwicklung in der Stadt beobachtet er - argwöhnisch. Am 10. Dezember verlässt er die Welt - und seine Stadt, um deren rot-rote Zukunft ihm bang war.

Esther Kogelboom

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