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Berlin: Horst Tichauer (Geb. 1920)

Deutscher Jude oder jüdischer Deutscher?

Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, zunächst wünsche ich Ihnen einen guten Tag. Dann möchte ich mich Ihnen in Erinnerung bringen. Mein Name ist Tichauer. Ich sprach Sie am letzten Sonntag im Jüdischen Gemeindehaus an. Habe nicht ein Problem, weswegen ich Sie bitten möchte, mir etwas Ihrer kostbaren Zeit zu opfern, sondern deren zwei. Mein ganz persönliches Problem ist die Klärung der Frage, Jude in Deutschland oder deutscher Jude?“

Horst Tichauer schrieb den Brief an Eberhard Diepgen im Jahr 1987, aber die Frage, die beschäftigte ihn schon von Kindesbeinen an.

Einmal nach der großen Pause lag auf seinem Pult ein Zettel in Form einer Fahrkarte: „Freifahrt nach Jerusalem, hin, und nicht wieder zurück“. Und auf die große Wandtafel vorne zeichnete ein Mitschüler einen Wegweiser, auf dem stand „nach Palästina“, und er malte einen Koffer in der Hand dazu. Schlimmer als die Schüler aber war der Lehrer Abel, der wollte alle „im Sinne Hitlers zu Kämpfern erziehen und ihnen den Ritterschlag verpassen; Juden sollten auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden.“ Das war 1933.

Am 30. Januar desselben Jahres streifte Horst Tichauer durch die Straßen Kreuzbergs und schrieb alle auf, die Nazifahnen draußen hatten. Es waren ja nicht so viele. Hitler war noch zu verhindern, glaubte er. Aber viel zu spät war die sogenannte „Eiserne Front“ gegründet worden, bestehend aus Sozialdemokraten, Republikanern und Gewerkschaftlern. Horst hatte an seinem Fahrrad einen schwarz-rot-goldenen Wimpel mit den drei Pfeilen. Er fuhr herum und klebte kleine Zettel mit einer Hitler-Karikatur und da stand drauf: „Hitler soll sich ja beeilen vor den eisernen drei Pfeilen“.

Es hat nicht geholfen. Horst, sein Bruder und die Mutter waren bereits für die Ausreise nach Australien registriert, aber dazu kam es nicht mehr. Die Übersiedlung nach Palästina hatte ihm die Mutter zuvor schon verboten, obwohl er sich in einem zionistischen Jugendbund bereits auf die Emigration vorbereitet hatte.

Sie zögerten die Flucht bis zuletzt hinaus. Im Januar 1939 gelangte die kleine Familie nach Prag, Hitler folgte ihnen umgehend. Für einen Sammelband, „Jüdische Berliner“, der 2003 erschien, schrieb Horst Tichauer seine Erinnerungen auf. Über die weitere Flucht heißt es: Als die Stadt von der deutschen Wehrmacht besetzt wurde, beschlossen wir, illegal über die Beskiden nach Katowice zu gehen. So als Ausflügler reisten wir zu dritt, Mutter und ihre zwei Söhne, in die Beskiden. Mit Schleusern gelangten sie über die Grenze nach Polen und wurden von der Polizei aufgegriffen. Der Befehl: Alle männlichen Juden im Alter von 16 bis 65 Jahren hatten sich zum Arbeitseinsatz nach Lublin zu melden. So fing der Leidensweg an. Wir gelangten zu einem umzäunten Gelände mit Baracken, das sollte später das berüchtigte Majdanek werden. Aussortiert wurden Ingenieure und Handwerker und uns wurde bedeutet: Geht zu euren Freunden – gemeint waren die Russen – wer morgen noch hier angetroffen wird, wird erschossen! Wir kamen irgendwann in Kiew an, die Türen wurden endlich geöffnet, und wir kamen an Wasser heran! Auch konnten wir uns nach draußen bewegen! Nun kann ich mich heute nicht mehr an die einzelnen Stationen erinnern, doch unser Ziel war der Ural! Ich war im Ganzen, ich weiß nicht genau, in 20 oder 21 verschiedenen sowjetischen Lagern, innerhalb Kasachstans, dann später in Moskau, in Kiew, in Minsk, in Stalino. Den Sieg über den Faschismus, Kriegsende und Befreiung erlebte ich in Karaganda am Radio. 1950 bin ich erst zur Repatriierung nach Moskau gekommen in das berühmte, bekannte 27-er Lager. Da waren viele hohe Offiziere. Dann kamen wir Juden, die Kleinen, der Rest. Dort hatte ich ein unangenehmes Erlebnis: Wir haben draußen an der Moskwa Torf aus Schiffen entladen, Säcke gefüllt, auf die Schulter und dann runter und auf einen Stapel. Wir waren ungefähr 20 Mann. Es waren auch SS-Leute darunter. Ich trug eine Wattejacke, und da war ein Judenstern drauf. Kommt der Brigadier und sagt, mach das weg. Da sage ich, nein, das bleibt. Die das Zeichen anordneten, sollen es wegmachen. Das gab Ärger. Aber von dem braven Soldaten und gewieften Widerstandskämpfer Schwejk hatte Horst gelernt, wie man dem Wahnsinn der anderen entkommen kann. Er gab sich demütig und aufsässig zugleich. Ich war einer der fleißigsten Arbeiter. Mir haben sie so oft gesagt, du bist ja kein Jude. Ein Jude kann nicht arbeiten. Das war die Einstellung der Russen. Fleißig war ich aber nur bis 1948, da war Adenauer in Moskau. Ihm hatte man versprochen, die Kriegsgefangenen und Internierten kommen bis Ende 1948 frei. Und nach 1948 war ich der faulste Hund. 13 Jahre war ich in Russland gewesen, 13 Jahre Lagerleben! Ich konnte auch schreiben und habe im Lager Kiew Liebesbriefe für die gefangenen Landser geschrieben, mit denen ich zusammen war.

Im Jahre 1952 durfte Horst Tichauer die Sowjetunion verlassen. In Bischofswerda kam er in ein Quarantänelager. Dort begegnete er der Frau, in die er sich sofort verliebte, die er aber erst Jahrzehnte später wiedersehen sollte. Die beiden wurden in Treptow ohne Papiere entlassen und mussten sich gegenseitig beim Roten Kreuz ihre Identität bestätigen, da sie sich vom Transport her kannten. Erst brachte er sie nach Hause, nach Lichterfelde, dann fuhr er nach Hause, zu seiner Tante.

Die hat ihn dann Tage später an der Hand gepackt und ist mit ihm zu Herrn Galinski gegangen: „Hier ist mein Neffe!“ – „So, ist er das? Na, dann gehen sie mal ins Büro und lassen sich einen Brief geben, mit dem werden Sie Geld bekommen.“ – „Herr Galinski“, entgegnete Horst Tichauer höflich, aber bestimmt, „ich bin ja nicht alt, 32 Jahre. Ich möchte eine Arbeit haben, ich möchte gerne arbeiten.“ Aber Arbeit konnte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde ihm nicht verschaffen. Als er dann den Brief beim Entschädigungsamt abgab und Geld abholen wollte, fragte ihn der zuständige Beamte süffisant: „Wie kommt denn Herr Galinski dazu?“

Beim Roten Kreuz wurde er freundlicher empfangen. „Über Sie liegen Aussagen von deutschen Kriegsgefangenen vor aus verschiedenen Lagern: Ein jüdischer Internierter aus Berlin namens Horst Tichauer war besonders solidarisch und mutig gegenüber den russischen Bewachern. Es sollte alles unternommen werden, dass er wieder in die Heimat kommt.“

Aber war es seine Heimat? Seine Tante riet ihm, nach Israel oder Amerika auszuwandern. „Nein“, widersprach er, „ich bin 32 Jahre alt. Es würde genügen, wenn ich mich ein halbes Jahr akklimatisiere.“ Also ging er auf die Suche nach einer Beschäftigung. In der Charlottenstraße, im Textilgeschäft von Herrn Luchs wurde er eingestellt. Nach 13 Jahren wieder zurück in der Konfektion. „Was sollte ich verlangen, Herr Luchs, ich kann ja nichts verlangen, ich weiß ja nicht, was ich kann. Ich weiß ja nicht, was ich noch bringe.“ Er bot mir 200 Mark im Monat. Selbstverständlich war ich einverstanden. Als ich sah, dass nach Tarifvertrag einem ausgelernten jungen kaufmännischen Angestellten ein Mindestlohn von 330 Mark zusteht, bin ich zu Herrn Luchs gegangen. „Wir werden uns ja nicht streiten.“ Ich bekam jetzt 300 Mark. Das war 1952 ja doch schon gutes Geld. Ich wechselte zur nächsten Firma, bekam dort 400 Mark, bei der folgenden 500 Mark und schließlich sogar 800 Mark.“

Er heiratete, die Tochter kam zur Welt, das Leben lief so vor sich hin, bis seine Frau 1993 starb. Und dann ereignete sich das größte Glück und Wunder meines Lebens: eines Tages klingelte die Gefährtin aus dem Quarantänelager Bischofswerda an meiner Tür. Seitdem sind wir zusammen. Wir haben unsere Lebensschicksale miteinander verbunden. Jetzt leben wir zusammen mit unseren gemeinsamen Erinnerungen. Wer sind wir? Deutsche Juden oder jüdische Deutsche?

Horst Tichauer kam ins Altersheim. Seine große Liebe starb. Das verwirrte ihn. So konnte es vorkommen, dass er sich in der Synagoge des jüdischen Altersheims in die erste Reihe setzte, und als der Rabbiner die Predigt beginnen wollte, einfach anfing zu pfeifen. Er wurde ermahnt: „In der Synagoge wird nicht gepfiffen!“ Der Rabbiner fuhr fort mit der Predigt, und wieder fing Horst Tichauer an zu pfeifen. Viele Betende lachten. Der Rabbiner meinte nur: „Ein richtiger Chassidim ist durch die Musik immer mit Gott verbunden.“

Das Pfeifen im Walde. Horst Tichauer war allein, aber nicht mehr ganz bei sich. Seine letzte Reise führte ihn zurück in die Kindheit, und diese Reise brachte ihm endlich Gewissheit über seine Heimat, denn jedem, der ihm zuhören wollte, beteuerte er: „Ich bin ein Kreuzberger Jung, ich bin ein Kreuzberger Jung.“ Gregor Eisenhauer

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