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Harald Martenstein

© Britta Pedersen/dpa

Horst-Wessel-Lied an einer Schule in Berlin: Dadurch wird man nicht zum Nazi

In Berlin hat eine Lehrerin ihre Schüler ein Nazi-Lied summen lassen - und wird dafür angefeindet. Sogar die Staatsanwaltschaft ermittelt. Aber vielleicht ist sie gerade wegen ihrer Muts eine besonders gute Lehrerin. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Harald Martenstein

In meinem Bücherschrank steht „Mein Kampf“ von Adolf Hitler. „Mein Kampf“ hat seinen Platz neben den Schriften von Stalin, von Mao Tse Tung und dem „Grünen Buch“ von Oberst Ghaddafi, in dem sogenannten Schurkenregal. Mao war ein recht guter Autor. Mao ist der Goethe unter den Diktatoren. Hitler schrieb weniger gut, aber immer noch besser als Stalin.

Ich habe Geschichte studert, der Nationalsozialismus war eines meiner Schwerpunktthemen. Wie man sich intensiv mit den Nazis befassen kann, ohne Hitler gelesen und eine seiner Reden im Original gehört zu haben, ist mir ein Rätsel. Man wird dadurch nicht zum Nazi, man wird lediglich gebildeter. Bildung handelt nicht nur vom Schönen, Guten und Wahren.

In Berlin gibt es Aufregung, weil eine Lehrerin im Unterricht das Horst-Wessel-Lied behandelt hat, eine Hymne der Nazis. Der Schulleiter sah sich genötigt, einen Brief an Eltern und Schüler zu schreiben. Darin erklärte er, dass dieser Vorfall im Rahmen des Unterrichtsthemas „Politische Propaganda“ und „Manipulationsstrategien des Nationalsozialismus“ stattgefunden hat. Die Lehrerin wollte den „Kälbermarsch“ von Brecht und Eisler behandeln, eine Parodie des Horst-Wessel-Liedes. Und sie war der Ansicht, dass man das Original kennen sollte, bevor man sich mit der Parodie befasst. Nach dem bisherigen Kenntnisstand hat sie den Rhythmus „mit dem Fuß aufnehmen“ und die Melodie mitsummen lassen. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen die Pädagogin. In der Sprache gewisser Boulevardmedien ist sie eine „Nazi-Lehrerin“.

Mir fällt dazu „Der Club der toten Dichter“ ein, in dem Robin Williams einen charismatischen Lehrer spielt. Er lässt seine Schüler auf dem Schulhof exerzieren, um ihnen etwas über Macht und über Anpassung beizubringen. Natürlich wird er von Dummköpfen angefeindet, die Schüler lieben ihn. Außerdem fällt mir der Film „Das Himmler- Projekt“ von Romuald Karmakar ein, er hat dafür den Grimme-Preis bekommen. Darin trägt der Schauspieler Manfred Zapatka eine Geheimrede vor, in der Heinrich Himmler versucht hat, den Massenmord an den Juden zu begründen. Zapatka spricht sachlich, ohne jede Emotion. Die Wirkung des Films beruht darauf, dass er die Zuschauer in die Gedankenwelt Himmlers eintauchen lässt wie in einen Albtraum, und wenn sie erwachen, schaudert es sie über sich selber. Im Filmlexikon steht dazu: „Selten ist der Kern eines menschenverachtenden Systems so präzise seziert worden.“

So funktioniert Kunst. So funktioniert Bildung. Die Details jener Stunde sind noch nicht vollständig bekannt. Ich will die Lehrerin deshalb weder verteidigen noch anklagen. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass ihr Vergehen darin besteht, eine besonders gute Lehrerin zu sein.

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