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Berlin: „Ich bleibe dabei: Zwangsehen sind wie eine seltene Krankheit“

Lale Akgün, SPD-Bundestagsabgeordnete, wehrt sich gegen ein falsches Bild der türkischen Gesellschaft. Migranten, sagt sie, leben nicht hinter dem Mond

Frau Akgün, wer hat Ihren Mann für Sie ausgesucht?

Diese Frage ist doch nicht Ihr Ernst, oder? Würden Sie diese Frage auch der Abgeordneten Angela Merkel stellen?

Unsere Frage sollte Sie nicht wundern: Laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums hat jede zweite hier lebende Türkin angegeben, ihre Eltern hätten den Ehepartner für sie ausgesucht. Jede vierte hat angegeben, ihren Mann vor der Hochzeit nicht kennen gelernt zu haben.

Ich habe meinen Ehemann selbst ausgesucht. Ich habe 15 Jahre als Familientherapeutin gearbeitet. Wissen Sie, die romantische Ehe ist eine Konstruktion aus dem 19. Jahrhundert. Vorher wurden Ehen meist aus rationalen Gründen geschlossen. Auch heute gibt es neben Liebe viele Gründe zu heiraten: Torschlusspanik, Angst vor Einsamkeit, der Wunsch nach einem Kind…

Das sind aber alles freiwillige Entscheidungen. Waren Ihre Eltern mit der Wahl des Ehepartners einverstanden?

Ja, natürlich.

Worin liegt der Unterschied zwischen arrangierten Ehen und Zwangsehen?

In einer arrangierten Ehe werden zwei Menschen zusammengebracht, die zusammenpassen könnten. Aber beide können frei entscheiden, ob sie heiraten wollen. Das ist bei der Zwangsehe nicht so.

Wie groß ist Ihrer Meinung nach die Zahl der Zwangsehen?

Aus meiner Erfahrung als Familientherapeutin kann ich sagen: Eine Zwangsehe ist sehr selten.

Nach einer Umfrage des Berliner Senats sind aber allein in Berlin 230 Mädchen und Frauen jährlich von Zwangsheirat betroffen. Die Dunkelziffer ist noch höher. Das sind doch keine Einzelfälle.

Das ist aber auch nicht die Normalität. So unterschiedlich sind die Gesellschaften in Deutschland und der Türkei nicht, wie man das gern darstellt. Die türkische Gesellschaft ist sicherlich patriarchalischer, die Geschlechterrollen sind fester zugeschrieben.

Trotzdem gibt es ohne Zweifel in der Tür kei und auch in Deutschland Zwangsehen unter Migranten, die das Selbstbestimmungsrecht der Frauen nicht achten. Was kann man gegen diesen Missstand tun?

In der Türkei muss das Heiratsalter höher gesetzt werden. Es muss verboten werden, dass Frauen unter 18 Jahren mit Zugeständnis der Eltern heiraten dürfen.

Und das wird helfen? Auch in Deutschland darf man ab 16 mit Zugeständnis der Eltern heiraten.

Weder hier noch in der Türkei darf es Ausnahmen unter 18 Jahren geben. Ich fordere für zwangsverheiratete Frauen in Deutschland eine sofortige Aufenthaltserlaubnis, damit sie sich scheiden lassen können, ohne ausgewiesen zu werden. Wenn zwangsverheiratete Frauen ins Ausland verschleppt werden, müssen sie eine Rückkehroption haben.

Die Grünen wollen das Rückkehrrecht für zwangsverheiratete Frauen verlängern. Bisher erlischt der Aufenthaltstitel nach einem halben Jahr im Ausland.

Ich unterstütze diese Forderung.

Was machen Sie als eine von zwei türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten gegen das Phänomen der Zwangsehe? Reicht es aus, dass Sie öffentlich – wie jüngst im Boulevardblatt „Hürriyet“ – behaupten, Zwangsehen seien so häufig wie seltene Krankheiten?

Das ist meine Meinung. Man darf nicht den Einzelfall als Pars pro Toto nehmen und denken, alle würden zwangsverheiratet werden. Das würde ein falsches Bild in der Gesellschaft geben. Solche Themen wirbeln Emotionen auf und lösen falsche Verallgemeinerungen aus. Ich möchte die Normalität aufzeigen. Oder denken Sie, dass alle türkischen Eltern pathologisches Verhalten zeigen und ihre Kinder zwangsverheiraten?

Deshalb sollte man „seltene Krankheiten“ wie Zwangsehen gar nicht behandeln? In Berlin ist es Normalität, dass 40 Prozent der hier geborenen Türken mit Partnern aus der Türkei Zwangsehen oder arrangierte Ehen eingehen.

Es ist auch bei Migranten aus anderen Nationen üblich, Ehepartner aus der alten Heimat zu holen. Wenn Sie in der Gesellschaft Missstände wie Zwangsehen erfolgreich verhindern wollen, müssen Sie Win-Win-Situationen schaffen. Ich finde Zwangsehen schrecklich. Aber: Sie müssen die Kritik daran so formulieren, dass Sie diejenigen Migranten nicht zugleich anprangern, die Ehen freiwillig eingegangen sind. Es wird oft so getan, als ob eine ganze Bevölkerungsgruppe, wie hier lebende türkischstämmige Migranten, hinter dem Mond leben würde.

Frauenrechtlerinnen wie die Anwältin Seyran Ates oder die Soziologin Necla Kelekt werfen Ihnen Stillhaltepolitik vor. Sie haben als Bundestagsabgeordnete die Möglichkeit, viele türkische Migranten zu erreichen. Warum kritisieren Sie Zwangsehen nicht einfach?

Selbstverständlich kritisiere ich Zwangsehen. Ich plädiere aber, was die Spekulationen über die Zahl der Zwangsehen angeht, für äußerste Zurückhaltung und unbedingte Seriosität. Zu der tatsächlichen Anzahl der Zwangsehen liegen bisher keine verlässlichen Daten vor. Ihre Dimension darf weder unterschätzt noch aufgebauscht werden.

Aber Sie haben doch auch eine gesellschaftspolitische Verpflichtung als Abgeordnete. Warum initiieren Sie nicht wie in der Türkei Aufklärungskampagnen gegen Verwandtenehen und weisen auf gesundheitliche Risiken hin für die Kinder, die aus diesen Ehen entstehen?

Die Risiken sind bekannt. Dennoch unterstütze ich Aufklärungskampagnen hier in Deutschland.

Reicht das von Rot-Grün verabschiedete Gesetz, Zwangsehen als Nötigung strafrechtlich verfolgen zu können, oder braucht man einen eigenen Strafrechtsparagrafen?

Nein. Jede Form von Zwangsehe ist bereits jetzt nach dem geltenden Recht als Nötigung strafbar.

Das Interview mit Lale Akgün führten Sabine Beikler, Suzan Gülfirat und Susanne Vieth-Entus.

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