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Kommt der Ihnen nicht seltsam vor? Lew Tolstoi.

© dpa

Ich habe verstanden: Körting, Tolstoi, Dr. Seltsam

In seiner Kolumne "Ich habe verstanden" beobachtet Matthias Kalle seltsame Menschen. Lew Tolstoi hätte er heutzutage in der Logik von Innensenator Körting wohl melden müssen. Und George W. Bush erst recht.

Ich habe jetzt quasi alles gelesen, was in dieser Woche über Lew Tolstoi geschrieben wurde und ich wusste vorher nicht, dass ich das alles auch tatsächlich wissen wollte. Tolstoi war diese Woche deshalb ein Thema, weil er am 20. November 1910 starb, er wurde 82 Jahre alt, aber auf den Fotos, die wir von ihm als alten Mann kennen, sieht er aus wie 182.

Er sieht, nun ja, ein wenig seltsam aus, mit dem Bart und den Haaren und den Augenbrauen, der großen Nasen und den großen Ohren, und wenn ich Tolstoi heute auf der Straße sehen würde, dann müsste ich ihn in der Logik von Innensenator Körting eigentlich melden, oder?

Körting bat am Donnerstag die Berliner „seltsame Menschen“ im Auge zu behalten, mittlerweile nennt er die Formulierung unglücklich, und die Kollegen von „Tagesspiegel Online“ haben die schöne Idee umgesetzt, die Leser zu fragen, wer oder was in dieser Stadt eigentlich seltsam ist. Die Antworten, die man da bis jetzt lesen konnte, machen fast durchweg gute Laune, denn sie beweisen vor allem, das die Berliner die gute Laune nicht verlieren. Die Antworten sind das, was man angesichts so genannter Terrorwarnungen ja immer sein sollte: lässig. Selbstironisch. Unaufgeregt. In einer Stadt, die solche Bürger hat, kann einem eigentlich nichts schlimmes passieren.

Andererseits: Ich mache im Prinzip nichts anders, als seltsame Menschen zu beobachten, in diesem Jahr zum Beispiel habe ich Stephanie zu Guttenberg beobachtet, Jörg Pilawa, Thilo Sarrazin, Frank Plasberg, Guido Westerwelle. Das sind so Menschen, die mir suspekt sind, allerdings rufe ich nicht sofort beim Verfassungsschutz an, wenn mir etwas merkwürdig vorkommt, denn Sinn und Zweck dieser Kolumne ist es ja, den Menschen und das, was er tut, zu verstehen, so seltsam er auch ist. Manchmal gelingt das nicht, bei George W. Bush zum Beispiel scheitere ich immer wieder, deshalb kommt er in dieser Kolumne nicht vor, er ist zu seltsam, eigentlich ist er Dr. Seltsam, aber seine Liebe zur Bombe erinnert an das, was ein Stalker unter Liebe meint, aber jetzt schweife ich ab.

Wer nämlich mal acht Stunden Zeit, der kann sich mit Hilfe von Google Street View Berlin im Sommer vor zwei Jahren anschauen. Das ist sagenhaft langweilig, weil die Stadt zum einen heute völlig anders aussieht, zum anderen, weil man überhaupt keine seltsamen Menschen sieht. Nicht einen. Was würde uns Lew Tolstoi, der ja die Eisenbahn als Fortschrittsunsinn abgelehnt hat, wohl zu Google Street View mitteilen?

Seltsame Zeiten.

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