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Gedenkkerzen an der Schwelle zur Neuen Synagoge in Berlin.

© Anton Roland Laub / AFP

„Ich kann die Worthülsen nicht mehr hören“: Was Berliner Juden über den Terror denken

Unterricht hinter Panzerglas, Unverständnis über Politiker: Zwei junge Berliner Juden erzählen, was die Attacke in Halle mit ihnen macht.

Benjamin Fischer und Michael Groys sind beide 28 Jahre alt, beide leben sie in Berlin und beide sind Juden. Nach dem Attentat in Halle erzählen die beiden, was die Nachrichten darüber für sie bedeuten und was es für sie heißt, als Jude in Berlin zu leben.

Benjamin Fischer, 28, Jude aus Berlin.
Benjamin Fischer, 28, Jude aus Berlin.

© promo

Benjamin Fischer, 28:„Die Polizei kam zum Abiball“

Ich habe erst nach dem Gottesdienst von dem Attentat erfahren, erst da habe ich mein Handy wieder eingeschaltet. Ich bin kein besonders religiöser Mensch, aber Jom Kippur feiere ich schon. Das ist der höchste jüdische Feiertag. Es gibt nur einen einzigen Tag im Jahr, an dem ich mein Handy wirklich mal die ganze Zeit aushabe und das ist dieser.

Wer als Jude aufwächst, wächst immer auch mit erhöhten Sicherheitsstandards auf. Das ist irgendwann selbstverständlich. In der Schule hatten wir neben den Feueralarmübungen auch Terroralarmübungen. Wir haben gelernt, was man tut, wenn jemand versucht, in das Gebäude einzudringen. Wir hatten Panzerglasscheiben in der Schule. Wir haben gelernt, wie man sich im Klassenzimmer verbarrikadiert. Wir sind damit aufgewachsen, dass Polizisten und Sicherheitskräfte vor unseren Einrichtungen stehen. Das ist die jüdische Realität.

Ja, natürlich denkt man nach so einem Attentat, das hätte auch mich treffen können. Trotzdem ist es mir wichtig zu betonen, dass man deshalb nicht konsequent in einem Angstzustand lebt. Die Sicherheitskräfte vor unserer Schule, die kannten wir irgendwann beim Vornamen, die waren bei unserem Abiball dabei. Das war nicht der Polizist, das war der Werner. So war unser Verhältnis.

Ich fühle mich in Berlin als Jude sicher. Ich fühle mich sicher, aber ich muss auch aktiv etwas für meine Sicherheit tun. Wenn ich die Synagoge verlasse, nehme ich ganz selbstverständlich meine Kippa ab. Ich kann ganz bewusst entscheiden, wann ich mich als Jude zu erkennen gebe und wann nicht – und das tue ich auch. Ich denke die Antwort auf den Anschlag in Halle darf nicht sein, dass wir uns verstecken und verbarrikadieren. Trotzdem wäre es naiv zu glauben, dass Sicherheitsmaßnahmen nicht notwendig wären.

Wir können von Glück sprechen, dass in Halle die Tür gehalten hat. Dass da eine Kamera montiert war. Dass ein ehrenamtlicher Sicherheitsmann dort war, der die Leute warnen konnte. Wenn das alles nicht gewesen wäre, müssten wir heute über viele Todesopfer sprechen. Eigentlich darf es nicht sein, dass diese Sicherheitsmaßnahmen für uns normal und alltäglich sind.

Wenn manche sagen, die jüdische Schule in Berlin sieht aus wie ein Gefängnis, nehme ich die hohen Gitter gar nicht mehr wahr. Das ist meine Normalität. Aber im Grunde haben die Leute recht, das dürfte nicht normal sein.

Michael Groys, 26, Jude aus Berlin.
Michael Groys, 26, Jude aus Berlin.

© promo

Michael Groys, 28:„Ich kann die Worthülsen nicht mehr hören!“

Ich saß in der Synagoge, habe gerade die Neilah gebetet, das Abschlussgebet an Jom Kippur, als der Anschlag in Halle passierte. Am Ende dieses Feiertags ist die Stimmung meist gelöst. Am Mittwoch waren alle angespannt, die Stimmung in der Synagoge gedämpft. Ich wusste noch nicht, warum. Vor der Tür war mehr Polizei als sonst. Erst dann sagte mir jemand, was passiert war.

Das erste Gefühl war Trotz. Ich dachte: Wir sind Juden. Wir sind stolz darauf. Wir gehören zu Deutschland. Wir lassen uns nicht verängstigen. Wir werden nicht trauern, sondern das Gegenteil von dem tun, was sich der Täter erhofft.

Ich sprach mit meiner Familie, mit Freunden. Sie waren fassungslos, entsetzt, hilflos und: enttäuscht. Hätte das nicht verhindert werden können?

Die Solidaritätsbekundungen kann ich nicht mehr hören. Das ist ein Symbol, ja, aber es ist unbedeutend angesichts der Situation, in der Juden in Deutschland sind. „Nie wieder“, rufen Politiker. Aber wir sind nicht mehr in den Anfängen, wir sind schon mittendrin. Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer hat von einem „Alarmzeichen“ gesprochen. Ich sage, das ist kein Alarmzeichen, sondern Terror. Wenn Außenminister Heiko Maas fragt „Wann hört das auf?“, denke ich: Ich brauche das nicht mehr.

Es ist, als würden wir jeden Tag neu entdecken, dass es Judenhass gibt. Ich kann diese Worthülsen-Rhetorik nicht mehr hören. Darin haben es sich viele deutsche Politiker schön gemütlich gemacht. Als sei eigentlich alles gut. Anscheinend hat aber die deutsche Erinnerungskultur versagt. Ab und an Stolpersteine putzen reicht halt nicht.

Ich frage mich seitdem: Wie kann es sein, dass nur ein ehrenamtlicher Sicherheitsmann die Synagoge in Halle geschützt hat? Dass eine Holztür den Attentäter von einem Massaker abhielt und nicht die deutsche Polizei? Ich bekomme Anrufe von Freunden aus New York, die fragen: Was ist da los bei euch? Auch die Politik stellt heute vor allem Fragen, aber – ehrlich gesagt – ich erwarte langsam Antworten.

Es braucht anscheinend mehr Geld und mehr Polizei, um jüdisches Leben in Deutschland zu schützen. Wer das nicht schafft, gibt die Demokratie auf. Es ist für uns bereits Realität, dass wir in Berlin besser nicht mit der Kippa auf die Straße gehen. Jetzt müssen wir uns auch in unseren Synagogen fürchten. Und: Am nächsten Sonntag ist schon der nächste Feiertag, das Laubhüttenfest Sukkot. Bis dahin braucht es Taten.

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