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Berlin: "Ich kenne die Zustände"

Böger sieht in der Rütli-Schule keinen Einzelfall – jede Hauptschule erhält ab 2007 einen Sozialarbeiter

Herr Böger, wissen Sie eigentlich, was an den Schulen in Berlin los ist?

Berlin hat als einziges Bundesland überhaupt eine Meldepflicht für Gewalttaten an Schulen. Die Verwaltung ist also über Gewaltvorfälle an den Schulen informiert. Im vergangenen Schuljahr wurden 849 Gewaltfälle gemeldet. Es gibt eine Rangstufe, wann ich als Senator unmittelbar informiert werde. Das ist der Fall bei Amoklauf, Mord, Schusswaffengebrauch, Geiselnahme, Brandfall oder Suizid an der Schule. Außerdem erhalte ich über alle Vorkommnisse Quartalsberichte. Ich kenne die Zustände an den Schulen. Offenbar öffnen sich anderen erst jetzt die Augen für die Realitäten in der Stadt.

Sind Sie über die Vorkommnisse an der Rütli-Schule und dem Überfall auf die Pommern-Schule informiert worden?

Im letzten halben Jahr gab es zehn Meldungen von Gewaltvorfällen an der Rütli-Schule. Ich kritisiere allerdings, dass die Schulaufsicht mich vor dem Warnruf des Kollegiums hätte informieren müssen. Aber: Schulaufsicht und Schulleitung sind seit Wochen miteinander im Gespräch über Unterstützung für die Schule, zwei muttersprachliche Sozialarbeiter waren lange avisiert. Über den Fall der Pommern-Schule bin ich nicht direkt informiert worden. Dieser wie auch vergleichbare Fälle, etwa sieben seit vergangenen Sommer, liegen unterhalb der Schwelle, bei der ich direkt Kenntnis erhalte.

Über die Zustände an der Rütli-Schule hat der Tagesspiegel 2003 und 2004 mehrfach berichtet. Auch die frühere Schulleiterin hat Sie im Sommer 2005 darüber informiert. Warum haben Sie nicht darauf reagiert?

Das stimmt so nicht. Es gibt ein Gesamtprogramm namens Strategien gegen Gewalt für die Hauptschulen. Das Problem bei der Rütli-Schule war, dass die Schulleiterin erkrankt war. Wenn eine Schulleiterin erkrankt, kann ich Sie doch nicht sofort herausnehmen und ersetzen. Um es klar zu sagen: Das Phänomen Rütli- Schule ist doch auch in anderen Haupt-, Realschulen und Gymnasien zu finden. An der Rütli-Schule gibt es eine Zusammenarbeit mit dem Freizeitklub gegenüber der Schule, mit der Prävention bei der Polizei. Man kann nicht sagen, dass hier nicht reagiert worden ist. Ich vertusche keine schlimmen Zustände: Nach jedem Schuljahr veröffentlichen wir einen Bericht über die Vorfälle an Schulen.

Warum haben die Hauptschulen bisher regulär keine Sozialarbeiter?

Dafür haben Landesmittel gefehlt. Deshalb werden jetzt jährlich zwei Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds bereitgestellt: Ab sofort werden an 20 Hauptschulen Sozialarbeiter eingesetzt. Ab 1. Januar 2007 wird in jeder der 55 Hauptschulen ein Schulsozialarbeiter eingesetzt.

Wie wollen Sie Gewalt an Schulen eindämmen oder verhindern?

Gewalt ist eine gesellschaftliche reale Erscheinung in dieser Stadt. Wir haben Präventionsarbeit auf verschiedenste Art geschaffen. Wir vernetzen Schulen mit Projekten, Freizeiteinrichtungen, Vereinen und der Jugendhilfe. Das ist alles noch ausbaufähig. Es wird ab August auch ein „Denkzeit-Training“ für massiv verhaltensauffällige Schüler zwischen 14 und 16 Jahren in Kooperation mit der Freien Universität geben. Schulpsychologen können solche Schüler direkt an die FU verweisen, die dort ein einjähriges Training absolvieren müssen. Das gab es bisher nur für straffällig gewordene Jugendliche. Das Wichtigste ist: Wir müssen diesen Jugendlichen eine Heimat geben, das heißt, sie mit unseren Normen großziehen, ausbilden und in der Gesellschaft aufnehmen. So antworten wir übrigens pragmatisch denen, die jetzt von Abschiebung faseln.

Wollen Sie das dreigliedrige Schulsystem abschaffen?

Ich will das System umbauen, aber auf freiwilliger Basis. Ich bin dagegen, Haupt- und Realschulen zwanghaft zusammenzulegen. Es muss ein freiwilliges Zusammenwachsen sein. Und es ist eine Illusion zu glauben, dass durch Veränderungen der Schulstruktur die Gewalt an den Schulen eingedämmt werden kann.

Das Gespräch führte Sabine Beikler.

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