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Berlin: Ihr Motto: "Jeden Tag früh aufstehen und viel arbeiten, da bleibt man fit"

Die Herbstsonne taucht den Reichstag in goldenes Licht. Es ist Donnerstagvormittag.

Die Herbstsonne taucht den Reichstag in goldenes Licht. Es ist Donnerstagvormittag. An der Ostseite des Parlaments, wo die Abgeordneten ein- und ausgehen, kämpfen zehn Kamerateams um die besten Plätze. Franz Müntefering, der designierte SPD-Generalsekretär, sprintet vorbei und hat nur einen flüchtigen Blick für die Kameras übrig. Guido Westerwelle von der FDP hat es auch eilig, aber er nimmt sich die Zeit, im Vorübergehen breit in die Objektive zu lächeln.

Doch niemand wartet auf Müntefering oder Westerwelle, alle warten auf Margarete Becker aus Marzahn und den Altbundeskanzler. Margarete Becker hat Geburtstag, sie wird 101 Jahre alt. Es war seit langem ihr Wunsch, den Reichstag zu besuchen. Aber vom Pflegeheim am Buckower Ring bis zum Reichstag, der für sie bis 1989 unerreichbar weit hinter der Mauer lag, ist es weit. Vor ein paar Wochen war Hannelore Rönsch von der CDU-Fraktion des Bundestages im Pflegeheim zu Besuch, um der Heimleitung 50 000 Mark für neue Plegebetten zu überreichen. Die ehemalige Bundesministerin für Familie und Senioren hörte von dem Wunsch der Hundertjährigen und arrangierte den Ausflug zum Reichstag.

Um elf Uhr fährt ein Kleinbus vom Fahrdienst des Bundestages vor. Helmut Kohl wartet bereits auf der großen Treppe, um Margarete Becker zu begrüßen. Der riesengroße Altbundeskanzler neigt sich hinab zu der zierlichen Frau, sie strahlt ihn an, in ihren Augen glänzt echte und ungebrochene Begeisterung. "Schön, dass Sie da sind", sagt Helmut Kohl und lädt Frau Becker und ihren Sohn Rolf kurz entschlossen zu Kaffee und Nusskuchen in die Bundestagskantine ein.

Margarete Becker hat schon viel gesehen. Zum Beispiel im Jahr 1913 den Kaiser Wilhelm, als er in Leipzig das Völkerschlachtdenkmal einweihte. Sie erlebte den Untergang des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, des Dritten Reichs und der DDR. Nicht nur als Zeitzeugin, sondern auch als Privatperson hat Frau Becker in ihrem Leben manchen Rückschlag erlebt, sich aber immer wieder aufgerappelt.

1933 gründete sie mit ihrem Ehemann in Leipzig eine Fabrik für Herrenhosen, 1943 wurde der Betrieb ausgebombt. Nach Kriegsende baute die tüchtige Frau ihre Firma im sächsischen Sebnitz wieder auf und arbeitete bis zu ihrem 74. Geburtstag als Firmenchefin. 1972 hörte sie auf, nachdem sie die Herren der Olympiamannschaft der DDR komplett eingekleidet hatte. "1972 hat mich die DDR enteignet, da habe ich gesagt: Macht Euren Mist alleine", erzählt Frau Becker dem ehemaligen Bundeskanzler. Helmut Kohl erkundigt sich nach der Zahl der Enkel und Urenkel. "Zwei Söhne, sieben Enkel, zwölf Urenkel", erfährt der ehemalige Kanzler.

Plötzlich ist der ehemalige Gesundheitsminister Horst Seehofer von der CSU da und gratuliert. "Alle Achtung, 101 Jahre, das liegt natürlich an meiner Gesundheitspolitik", sagt Seehofer. Helmut Kohl philosophiert mit Frau Becker über die Kunst, so alt wie möglich zu werden. Das Kohlsche Rezept: "Jeden Tag früh aufstehen und viel arbeiten, da bleibt man fit." Frau Becker stimmt zu.

Nach 20 Minuten muss Helmut Kohl "zurück an die Arbeit" und verabschiedet sich herzlich. Frau Becker versteht das. Sie will sich noch die Kuppel des Reichstags ansehen und einen Blick in den Plenarsaal werfen.

Michael Brunner

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