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Berlin: Ikea-Katalog: Sind wir nicht alle ein bisschen Billy?

Die schweren Jahre des Versteckens und Verleugnens, des Überlackierens und Zersägens sind vorbei. Der Keller muss nicht mehr für die Sünden toller Studentenjahre Platz machen.

Die schweren Jahre des Versteckens und Verleugnens, des Überlackierens und Zersägens sind vorbei. Der Keller muss nicht mehr für die Sünden toller Studentenjahre Platz machen. An prominenter Stelle, zwischen den Gesamtausgaben von Heine und Asterix, formschön aufrecht gestützt in ei- nem Schuber aus Birkenholz (Knuff Zeitschriftensammler, geölt, gewachst oder bemalt, 5 Mark) präsentieren sich die Jahres- schriften des Ingvar Kamprad vom Hof Elmtaryd aus Agunnaryd in Schweden, genannt Ikea.

Ikea ist Kult, wie Aldi. Niemand muss sich mehr schämen, seine Wohnstube zu einem genormten Regallager verschraubt zu haben. Ikea stiftet Gemeinschaft, wie früher das Fernsehen. Über Ivar, Billy, Sten und die anderen kernigen Jungs aus dem Nadelwald können sich alle unterhalten, die sich sonst nichts zu sagen haben. Der Ikea- Katalog ist das letzte Standardwerk des deutschen Bildungskanons. Wer hat schon den Zauberberg gelesen oder Effi Briest? Das Bilderbuch aus Schweden kennt jeder. 26 Jahrgänge sind inzwischen erschienen, in dreistelliger Millionenauflage.

Dieser Tage kommt Folge 27 in die Briefkästen, und die Ikea-Fan-Gemeinde harrt Tag und Nacht im Hausflur aus, um endlich Gewissheit zu haben, ob der Öland-Sessel noch im Programm ist. Oder das Lämplig-Abstellrost mit Kunststofffüßen, so formschön-gradlinig, das Stück für 19 Mark. Natürlich wird es wieder Neuheiten geben, vielleicht ein CD-Regal mit Bürstenbezug zum Schuheputzen oder ein Deckenhängeschrank mit praktischer Leuchtquelle. Einem Ikea-Designer gehen die Ideen nicht aus, solange die schwedischen Förster nur genügend Holz einschlagen. 110 Millionen Kataloge in 34 Spracheditionen werden weltweit an die Menschheit verteilt. Eine soziale Großtat, die das Möbelhaus mehr als eine halbe Milliarde Mark kostet. Berlin erhält immerhin zwei Millionen Ikea-Schmuckbände. Bis zum 9. September soll jeder Haushalt ein Freiexemplar bekommen: 380 Seiten, angefüllt mit erbaulicher Prosa nebst Objektkunst im Stil skandinavischer Sachlichkeit. Und nun der Skandal! Wie uns die Spandauer Filiale des wohltätigen Möbeldistributeurs soeben mitteilte, muss auch in diesem Jahr mit erheblichem Katalogschwund gerechnet werden. Besonders in "Steigehäusern" würden die Schriften gerne in einer schmutzigen Flurecke abgelegt oder gleich in der Papiertonne versenkt, berichtet Sylvia Lorenz. Es schwärmten zwar Kontrolleure aus, die vor Ort Befragungen unternähmen und Mülltonneninhalte inspizierten, aber auf diese Weise könne nur der Verbleib von circa zwei Prozent der Gesamtauflage sicher rekonstruiert werden. Das Problem der "Schlechtverteilung" wird bleiben, erklärt Frau Lorenz mit fatalistischem Gestus. So wartet der Ikea-Junkie womöglich vergeblich auf seine neue Dro-ge. Die Folgen sind kaum abzuschätzen: Sinnloser Dauerkonsum von Asterix- und Heine-Bänden. Stupides Herumklempnern an der schon vor Jahren erfolgreich zusammengeschraubten Askedal-Schlafzimmerserie. Bevor es zu Trugbildern und Trollbegegnungen kommt, bitte nachbestellen, ab 9. September: www.ikea.de

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