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Tatort Kinderzimmer. Wie viele Familien durch die Netzausflüge ihres Nachwuchses in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten geraten sind, ist unbekannt. Sicher ist: Juristisch haben sie keine Chance. Manchen bleibt nur der Weg zur Schuldnerberatung.

© M/Kai-Uwe Heinrich/dpa

Illegale Downloads: Nur ein paar Klicks bis zum finanziellen Ruin

Es ist eine vermeintliche Bagatelle: Ein paar Klicks im Internet, der zwölfjährige Tim lädt seine Lieblingssongs runter. Seine Eltern ahnen davon nichts. Doch dann kommen die Rechnungen.

Ein Song von Lady Gaga: 1200 Euro. Ein unbedachter Klick in der Internettauschbörse: 450 Euro. Alle Anwalts-, Gerichts- und Mahngebühren zusammen: unbezahlbar. Weil ihr Sohn im Netz illegal Musik geladen hat, ist die Zehlendorferin Irina Wolter (Name geändert) ins Visier von Musikindustrie und Justiz geraten. Was als vermeintliche Bagatelle mit ein paar Klicks im Internet begann, könnte ihre Familie ruinieren. Berechtigte Forderungen der Rechteinhaber belaufen sich auf etwa eine Viertelmillion Euro.

Jeden Morgen geht Irina Wolter mit einem mulmigen Gefühl zum Briefkasten. Denn dort begann im Juli ihr ganz persönlicher Albtraum, der sie seitdem keine Nacht ruhig schlafen lässt. „Der erste Brief hat uns völlig überrascht“, sagt Wolter. Die Familie kam gerade aus dem Urlaub, als sie das Schreiben der Kanzlei Rasch aus Hamburg erreichte. In einer Internettauschbörse soll von ihrem Computer ein Lied illegal heruntergeladen worden sein, so der Vorwurf. Wolter kennt weder den Interpreten noch hat sie je in ihrem Leben Musik im Internet getauscht. Dennoch soll sie einen vierstelligen Betrag als Mahngebühr bezahlen und eine Unterlassungserklärung unterschreiben. Wie sich erst später herausstellt, war es ihr 12-jähriger Sohn Tim, der das Lied geladen hatte. Der Junge war sich keiner Schuld bewusst. „Es stand ja dabei: free Downloads.“

Jetzt weiß auch Sohn Tim, dass man sich darauf weder verlassen noch berufen kann. Also zahlte Wolter. „Wir dachten, damit wäre es vorbei.“ Doch seitdem kamen täglich neue Mahnungen. Recherchen auf dem Computer ihres Sohnes ergaben, dass Tim sich insgesamt 295 Titel aus dem Netz geholt hat. Einer nach dem anderen wird nun abgemahnt. Mal mit 500, mal mit 800 Euro. Als Wolter die Gesamtsumme überschlägt, wird ihr schwarz vor Augen.

Für die Wolters dürfte es kaum ein Trost sein, doch: Sie sind nicht allein. Viele Kollegen und Freunde haben ihr seitdem von ähnlichen Vorfällen berichtet. Eine Kollegin beispielsweise hatte gerade eine Rechnung über 3000 Euro begleichen müssen – ihre Tochter hatte sich ein Hörbuch der Kinderkrimireihe „Die drei Fragezeichen“ vermeintlich gratis im Internet besorgt. Günstig kam ein Vater davon, dessen Tochter sich ein Rezept für alkoholfreie Cocktails heruntergeladen hatte. Kostenpunkt für diesen Klick: 90 Euro.

Es gibt keine Zahlen darüber, wie viele Familien durch die Netzausflüge ihrer Kinder in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten geraten sind. Juristisch haben die Familien keine Chance. Dass nicht die Eltern selbst, sondern ihre minderjährigen und damit nicht strafmündigen Kinder die Dateien geladen haben, wirkt nicht etwa strafmildernd, sondern sogar besonders schwer. Als Inhaber eines Internetanschlusses sind sie allein verantwortlich und hätten besser auf die Kinder aufpassen müssen, so die gängige Rechtsprechung, die erst kürzlich vom Bundesgerichtshof bestätigt wurde. Irina Wolter findet das absurd. „Ich kann meinen Sohn nicht pausenlos beaufsichtigen.“

Die Hemmschwelle zur Straftat ist beim illegalen Musikdownload besonders niedrig. Die Betreiber der Plattformen werben mit kostenloser Musik und „free Downloads“. Dass dabei die Urheberrechte unzähliger Künstler mit Füßen getreten werden, steht dort freilich nicht. Die Musikindustrie setzt deshalb auf „Aufklärung durch Abschreckung“, wie Daniel Knöll, Sprecher des Bundesverbandes der Musikindustrie (BVMI) erklärt. „Wir wollten, dass jeder jemanden kennt, der schon einmal erwischt wurde“, sagt Knöll. Dabei seien Minderjährige nicht einmal das Hauptproblem. Knöll vermutet sogar, dass häufig die Kinder nur von Erwachsenen vorgeschoben würden. „Wenn wir auf einem Computer Lieder von Helene Fischer finden, entspricht das nicht dem Geschmack eines 13-Jährigen.“

Besonders eifrig beim Aufspüren der Missetäter ist die Kanzlei Rasch aus Hamburg. Sie vertritt die vier großen deutschen Musiklabels Sony, BMG, Warner und Universal. Die Rasch-Anwälte haben deshalb, was man in Juristenkreisen als „Kaperbrief“ bezeichnet. Ein Generalmandat, das es ihnen erlaubt, selbstständig Jagd auf Urheberrechtsverletzer zu machen. Wer von ihnen erwischt wird, hat eigentlich keine andere Möglichkeit, als zu zahlen.

Der Berliner Rechtsanwalt Hauke Scheffler versucht trotzdem zu retten, was zu retten ist. Das Geschäft läuft gut. Auf seiner 24-Stunden Notrufnummer melden sich nach eigenen Angaben täglich Berliner Familien, die ebenfalls Post von Rasch und anderen Kanzleien erhalten haben. Einige zu spät. Ihnen blieb nur der Gang zum Schuldnerberater, sagt Scheffler. „Wir raten von einem Prozess ab. Wenn es zu einem Urteil kommt, wird es teuer.“ Der Trend gehe zu höheren Strafen. Trotzdem sei es wichtig, einen Anwalt einzuschalten. „Mandanten, die einfach zahlen, kriegen häufig immer wieder Mahnungen. Wer sich von Anfang an wehrt, zahlt die erste Mahnung, wird dann aber in Ruhe gelassen.“

Auch Irina Wolter wandte sich an einen Anwalt. Zahlen musste sie diesen selbst: In den Klauseln ihrer – und fast aller anderen – Rechtsschutzversicherungen werden Urheberrechtsverletzungen ausdrücklich ausgeschlossen. Nach insgesamt 3000 Euro an Mahngebühren und einem halben Dutzend unterschriebenen Unterlassungserklärungen gaben die gegnerischen Anwälte vorerst Ruhe.

Dass Tim wusste, was er da tat, glaubt Wolter nicht. Sie fordert deshalb eine bessere Medienerziehung schon in der Schule, die Kindern hilft, die unzähligen Angebote im Internet einzuordnen. Und auch Rechtsanwalt Scheffler hält eine gesellschaftliche Debatte für überfällig: „Jeder Vierjährige weiß, dass man nicht klauen darf, aber virtuell, im Internet, begreifen das selbst 30-Jährige nicht.“

Bei Familie Wolter traf in den vergangenen Wochen kein Schreiben mehr ein. Beim Gang zum Briefkasten beschleicht die Eltern trotzdem jedes Mal ein mulmiges Gefühl. Schließlich stehen da noch rund 280 heruntergeladene Songs aus, die findige Anwälte entdecken und abmahnen könnten. Urheberrechtsverletzungen verjähren nach drei Jahren. Erst dann ist Familie Wolter wieder auf der sicheren Seite.

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