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Berlin: Immer wacher

Nachts ballen sich die Menschen in Berlin an den seltsamsten Orten. Ein Stadtspaziergang zwischen Stille und Trubel – von Mitte bis nach Friedrichshain

Der Unterschied zwischen Tag und Nacht in Berlin lässt sich so erklären: Nachts ballen sich die Menschen an den komischsten Orten. Der Alex ist leer, der Ku’damm auch, die Friedrichstraße sowieso. Aber vor dem Bergstübl an der Invalidenstraße, da stehen sie plötzlich in Trauben, sitzen auf einem dreckigen Bürgersteig vor einer normalen Kneipe. Sie planschen im Dunkeln auf dem Badeboot an der Spree vor der Kulisse eines Industriegebiets, und dann stehen sie mit tropfenden Badehosen und einem Bier in der Hand zwischen Szenemädchen auf Stilettos und kunstvoll zerzausten androgynen Jungs. Zu Hunderten knäueln sie sich an Stränden, die nicht am Meer liegen, sondern am Lehrter Bahnhof oder mitten auf dem Leipziger Platz. Bei Nacht hat Berlin noch mehr Herz für Verrücktheiten.

Und ein paar zeigen wir auf diesem Spaziergang.

Ein Hinweis vorweg. Es wird auch ein Spaziergang zum Gucken und Durchatmen an stillen Orten. Dass Berlin brüllt bei Nacht, ist eine Erfindung der Reiseveranstalter, die das Brüllen mit dem Gesang der Girls im Friedrichsstadt-Palast verwechseln. Berlin singt ein bisschen, mal heiser, mal laut, aber öfter leiser, und es hat seine Stimme niemals trainiert. Berlin ist eher Cello als Geige, oftmals E-Gitarre und eigentlich nie Klavier. Berlin hat nicht viele nachtaktive Meilen wie die Simon-DachStraße in Friedrichshain, und die glitzert auch nur, wenn man die Augen ein bisschen zusammenkneift und unscharf guckt und nicht zu hoch, denn ab dem fünften Stockwerk ist da nichts mehr.

Wer nachts auf den Fernsehturm hochfährt, der sieht, wie Berlin wirklich ist: ein schläfrig-blinkendes Riesendorf. Unten an den Ampeln stehen um Mitternacht herum höchstens 20 Autos, und dann krabbeln sie gemächlich los wie der Maikäferpapa mit Maikäfermama und dann die Kinderlein. Berlin schläft ganz gut des Nachts, besser als Paris oder London, und das Leben zieht sich nur noch in Kapillaren durch die Großstadt – aber dafür in immer neuen Verästelungen.

Wir beginnen unseren Spaziergang an der Alten Schönhauser Straße, die in den vergangenen Jahren immer wacher geworden ist. Wer von oben reinschaut, der sieht das Besondere erstmal nicht, aber dies ist eine der jüngsten Straßen der Stadt. Hier haben sich junge Leute niedergelassen mit besonderen Ideen, und kein Laden gleicht dem anderen, vom wunderschön dekorierten Vietnamesen „Monsieur Vuong“ (siehe unten) bis zu „Holly“, wo es elegante Designerstücke für junge Leute gibt – was in Berlin wirklich etwas Besonderes ist.

Die Rosenthaler Straße gehört auch zu den ganzjährigen Lebensadern Mittes, aber im Sommer kommt noch die Monbijoustraße dazu, um die Ecke. An ihrem Ende liegt eine neue Schnittstelle von Trubel und Stille vor der mit schlingernden Wasserspiegelungen verzierten Fassade des Bode-Museums. Hier, am Ufer der Spree, wird Shakespeare gespielt, hier liegt die Strandbar Mitte, die einen kurzen Eindruck von Ibiza vermittelt. Hier steht bis ultimo der Würstchenverkäufer, den sie vom Brandenburger Tor vertrieben haben und der einem armen Penner die Nische an der Spreebrüstung abgejagt hat. Aber wer dann weiter läuft in den Park hinein, kommt zur Unterführung, wo der Saxophonspieler im Dunkeln steht, und der Spaziergänger wird ganz ruhig davon. Er steht und guckt auf den Berliner Dom in der Dämmerung und hört zu, und plötzlich ist dieses Berlin wieder da, das man so lange kennt, dass man das Gefühl für seine Besonderheit schon fast verloren hatte.

Berlin bei Nacht ist zum Mythos geworden trotz seiner Stille. Lesser Ury, der Impressionist, erst Freund, dann Feind Max Liebermanns, 1931 verstorben, hat Berlin so gemalt: viel Schwarz, und dann diese Lichtpunkte darin, Gesichter, die auftauchen und verschwinden. Zum Spaziergang empfehlen wir, einen CD-Spieler mitzunehmen und ein paar Strecken mit Musik im Ohr an sich vorüberziehen zu lassen, mit Gustav Holsts „Planeten“ beispielsweise, vor allem, wenn es Richtung Osten geht auf der Karl-Marx-Allee. Da wird Berlin zum bewegten Bild.

Berlins Besonderheit ist, dass überall Menschen mitten ins nächtliche Nichts Leben gepflanzt haben und es dort existieren kann. Und dann schaut man raus bei einer Party und kann Luft holen allein beim Anblick. Die CSA-Bar an der Karl-Marx-Allee ist so ein Ort. Rundum sind die Prachtbauten am prächtigsten, aber sonst rauscht nur der Verkehr – und im einstigen Hauptbüro der tschechischen Fluglinie CSA hat sich ein junger Mann mit Cocktails niedergelassen. Er hat die Sechziger wieder erweckt, und auf dem breitesten Bürgersteig Berlins stehen Tischchen mit Windlichtern, die nach dem zweiten Cocktail schön verschwimmen. Die Stadt, der Spaziergänger und der Alkohol – einen schöneren Ort, sich in Ruhe anzufreunden, gibt es nicht.

Wer unseren Spaziergang durchhält und nicht bei den Cocktails hängen geblieben ist, der verdient eine Belohnung. Deshalb haben wir an den Schluss den RAW Tempel Verein gesetzt. So ist Berlin bei Nacht auch. Die Nacht ist ein Mittel der Gleichberechtigung, und so entfalten auch hässliche Orte Schönheit. Hier waren früher mal die Reparaturwerkstätten der Reichsbahn untergebracht, heute verwirklichen sich Künstler selbst. Sie üben Seiltanz, sitzen in Jurten und erzählen Unsinn, lesen vor oder spielen Ping-Pong zu Afro-Musik.

Wer einen Nachtspaziergang macht, sollte Orte meiden, an denen es Cocktails mit Schirmchen für Touristen gibt. Er sollte diese kleinen Knäuel Leben suchen – und lachen.

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