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Hand in Hand. Viele Eltern von Kindern mit einer Behinderung machen sich große Sorgen.

© imago stock&people

Impfungen für pflegende Angehörige: „Wir haben solche Angst, unser Kind anzustecken“

Viele Eltern, die ihre behinderten oder kranken Kinder pflegen, warten sehnsüchtig auf die Corona-Impfung. Jetzt gibt es Hoffnung auf baldige Termine.

Von Sandra Dassler

Petra und Martin Meier waren sehr glücklich, Eltern zu werden. Und dann auch noch gleich Zwillinge – ein Mädchen und ein Junge. Perfekt! Doch kurz darauf erfuhren sie bei einer Schwangerschaftsuntersuchung, dass eines des Kinder an einer schweren körperlichen Beeinträchtigung litt.

„Wir wussten also, dass unsere Tochter besonders sein würde“, sagt Martin Meier. „Aber wir waren uns einig, dass wir alles tun werden, um ihr ein weitgehend normales und behütetes Leben in der Familie zu ermöglichen.“ Die beiden haben in dieser Geschichte andere Namen, um ihre Kinder zu schützen.

Ein behütetes Leben - das ist den Eltern bislang gelungen. Wider Erwarten kann ihre jetzt sechsjährige Tochter mit ständigem Training sogar laufen. „Sie könnte auch wie ihr Zwillingsbruder zur Schule gehen“, sagt Martin Meier. „Doch weil sie zur Hochrisikogruppe zählt und eine Ansteckung mit Covid-19 wahrscheinlich nicht überleben würde, unterrichten wir beide Kinder seit fast einem Jahr zu Hause.“

Seine Frau hat deshalb ihren Job aufgegeben und er selbst arbeitet reduziert, um die Pflege sicherzustellen.

Das geringere Einkommen sei noch das kleinste Problem, weitaus schwerer wiege für alle die lange Isolation, sagt Martin Meier. „Wir haben solche Angst, unser Kind anzustecken. Oder auch uns selbst, denn dann ist niemand da, der unsere Kinder pflegt und schützt. Wir hatten so sehr gehofft, dass wir endlich eine Impfung bekommen“, sagt er.

[Isolation ist schlimmer als Angst: Abonnenten von T+ lesen hier, wie Risikokinder unter der Pandemie leiden.]

Aber die Ankündigung von Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci am 11. März dieses Jahres, wonach die ambulanten Pflegedienste Impfcodes für die Angehörigen ihrer minderjährigen Patienten anfordern sollen, habe in der Realität nicht funktioniert, sagt Martin Meier. So hätten seine Familie und auch andere Betroffene von ihren Pflegediensten die Auskunft erhalten, sie wüssten gar nicht, wie das Verfahren zu händeln sei.

Da der Impfstoff bekanntlich knapp ist und inzwischen viele andere Berufsgruppen geimpft werden, befürchteten viele pflegende Angehörige, dass sie mal wieder „vergessen“ werden. Doch seit Donnerstag haben sie wieder ein wenig Hoffnung geschöpft. Da kündigte die Senatsverwaltung für Gesundheit und Pflege an, dass sich Angehörige, die ihre Lieben ohne ambulante Dienste zu Hause versorgen, bei den Berliner Pflegestützpunkten melden können. Maximal zwei enge Kontaktpersonen erhalten demnach einen Code für eine Impfung.

Die Kinder selbst können nicht geimpft werden

„Auch wenn dabei jetzt natürlich noch nicht alles reibungslos klappt, ist es auf jeden Fall ein ganz wichtiges Signal und ein Schritt in die richtige Richtung“, sagt Benita Eisenhardt von „MenschenKind“, einer Fachstelle für die Versorgung chronisch kranker und pflegebedürftiger Kinder. Die Gesundheitsverwaltung habe auch angekündigt, dass es ab kommenden Montag noch eine weiter Anmelde-Möglichkeit für die Angehörigen der sogenannten Risikokinder geben wird.

„Da diese Kinder selbst nicht geimpft werden können, ist eine sogenannte Umgebungsimpfung umso wichtiger“, sagt Benita Eisenhardt. Und erzählt von einer alleinerziehenden Mutter, die ihren querschnittsgelähmten Sohn und seine drei Geschwister betreut. „Wenn sie ausfällt – wo sollen die Kinder hin? Und vor allem der Sohn, der manchmal beatmet werden muss? In Berlin gibt es keine Einrichtungen, die solche Kinder aufnehmen.“

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Anfang dieser Woche hatte sich Menschenkind genau wie der Verein Lebenshilfe und sieben weitere Organisationen mit einem Offenen Brief an die Berliner Gesundheitsverwaltung gewandt. Dass diese jetzt reagiert und den Betroffenen eine Möglichkeit eröffnet, sich für die ersehnte Impfung registrieren zu lassen, ist umso wichtiger, als für die pflegenden Angehörigen von Seiten der Bundesregierung bereits neues Unheil droht.

Plötzlich sind pflegende Angehörige nicht mehr in den höchsten Priorisierungsgruppe

„Völlig zu Recht sind die pflegenden Angehörigen in der aktuell gültigen Impfverordnung des Bundes mit in die höchste Prioritätengruppe aufgenommen worden“, sagt die Geschäftsführerin der Bundesvereinigung Lebenshilfe, Jeanne Nicklas-Faust: „Zwar steht dies nur in der Begründung, aber es zeigt Wirkung.“ So hätten beispielsweise Thüringen, Bayern und in Ansätzen nun auch Berlin begonnen, pflegende Angehörige zu impfen. Das habe vielen Betroffenen Hoffnung gegeben. Umso unbegreiflicher sei, dass im Entwurf zur neuen Impfverordnung des Bundes die pflegenden Angehörigen plötzlich nicht mehr in der höchsten Priorisierungsgruppe sind.

„Das trifft ausgerechnet jene Menschen, die seit über einem Jahr am absoluten Limit leben“, sagt Nicklas-Faust. „Die oft sogar auf Pflegedienste verzichtet haben, weil sie ihre Lieben vor Ansteckung schützen wollten – und jetzt wieder erleben, dass die Politik ihr Engagement, ihre Arbeit und ja, auch ihr Leid, einfach nicht wahrnimmt.“

In Brandenburg haben Angehörige bislang kaum Zugang zu den Impfungen

Gerade in Ländern wie Brandenburg, das pflegenden Angehörigen bis auf wenige Ausnahmen keinen Zugang zu Impfungen gewährt, wäre deren Streichung aus der ersten Priorisierungsgruppe schlichtweg eine Katastrophe, warnen die Pflegeverbände. „Wir haben solche Angst, dass wir unseren Sohn anstecken“, sagt eine Mutter aus Brandenburg. Er ist seit einem Kindergartenunfall vor acht Jahren querschnittsgelähmt und benötigt 24 Stunden am Tag Sauerstoff. „Wir haben uns schon an alle möglichen Stellen gewandt – vor zwei Wochen sogar an das Bundesgesundheitsministerium. Eine Antwort haben wir von dort bis heute nicht erhalten.“

Eine Rücknahme der Impfmöglichkeit für pflegende Angehörige würde Isolation mit traurigen Konsequenzen bedeuten, sagt Benita Eisenhardt: „Gerade bei Kindern ist es wichtig, dass bestimmte Therapieangebote wie etwa beim Laufen lernen in einem bestimmten Zeitfenster erfolgen. Sonst ist die Chance vertan und die Kinder benötigen dann sehr viel teurere Hilfen, etwa eine Operation.“

Das Argument, wonach pflegende Angehörige eine große Gruppe sind und möglicherweise angesichts des knappen Impfstoffes nicht berücksichtigt werden sollen, ist auch für Lebenshilfe-Geschäftsführerin Jeanne Nicklas-Faust nicht überzeugend: „Das kann man ja über Kriterien zur Impfreihenfolge klären“, sagt sie: „Aber sie sollten auf jeden Fall in der ersten Gruppe bleiben. Ansonsten befürchte ich, dass manche von ihnen nicht mehr lange durchhalten.“

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