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In OMAS ZEITung (12): Paddeln mit Ise

Dorothea Spannagel war Lokalreporterin im Berlin der 50er Jahre. Ihr Enkel Lars entdeckt ihre Texte neu. Diesmal: Oma Thea paddelt die Havel hinunter - und offenbart ihren Sound als Schreiberin.

In der Sportredaktion bin ich der Mann für die Selbstversuche. Vor ein paar Jahren habe ich mich für eine Reportage in einen hautengen Schwimmanzug gezwängt (und mich dabei auch noch fotografieren lassen), neulich habe ich mich beim Blindenfußball versucht und bin geradewegs in einen Zaun gerannt. Inzwischen weiß ich, wer an diesem Hang zu Selbstdarstellung und Selbstzerstörung schuld ist: meine Oma Thea.

Am 25. Juni 1950 unternimmt meine Großmutter für die „Neue Zeitung“ einen eigenen kleinen Selbstversuch: Sie paddelt in einem Kajak über die Havel. „Ise ist blau, schmal, dafür lang, und ihre Haut ist aus Gummi“, schreibt sie über ihr Boot. „Sie ist nicht überschlank, sportlich-elegant könnte man sie nennen.“ Der Artikel unter dem Titel „Sonntag im Paradies der Paddler“ ist anders als die meisten Texte, die sie normalerweise verfasst und die für gewöhnlich einen nachrichtlichen Inhalt und einen nüchternen Tonfall haben. Im Selbstversuch scheint sich meine Oma ein wenig auszutoben – vor allem als Schreiberin. Sie lässt Kajak Ise zu Wasser – und beschreibt das so: „Hier ist sie in ihrem Element, sagt plitsch oder platsch und will davon. Aber ich halte sie fest an der Leine.“

Ein Boot, das plitsch oder platsch sagt und davon will – das gefällt mir. Meine Oma hatte als Reporterin anscheinend einen richtig eigenen, guten Sound. Leider ist sie viel zu selten dazu gekommen, Stücke wie die Kajak-Reportage zu schreiben. „Drei kräftige Paddelschläge und wir schwimmen frei, freuen uns über den leichten Schiebewind und schlängeln uns durch die Gräben von Tiefwerder“, heißt es weiter in dem Artikel. „Mit fördernden Schlägen, Backbord, Steuerbord, lenke ich Ise an Pichelswerder vorbei, ziehe kräftig durch, um übermütigen Schwimmern zu entkommen, denen es Ises Heck angetan hat.“

Weiter geht es die Havel hinab, dem Grunewaldturm entgegen. „Wir wiegen uns auf einem gelbgrünen Seerosenfeld vor Lindwerder“, schreibt meine Oma. „Über lederne, ölige Blätter, an denen Schnecken kleben, treiben wir dahin.“ Auch mir macht es Freude, solche kleinen Beobachtungen aufzuschreiben. Lederne Blätter vor Lindwerder sind manchmal spannender als jede Antwort, die einem ein Prominenter in einem Interview gibt.

Die Idylle auf der Havel ist fast perfekt, nur die Motorboote stören. „Jeder Dritte scheint eilig zu sein, merkt nichts von der frischen Luft, trägt die Großstadt aufs Wasser. Ich faulenze, lasse Wasser durch die Finger rinnen“, schreibt meine Oma über das Gedränge auf der Havel. „Wir sind ein bisschen unwirsch, weil die Außenborder nicht nur knattern – sondern immer mehr werden.“

Unwirsch – ich erinnere mich, dass meine Oma Thea dieses Wort gerne und oft benutzt hat. Es gehörte zu ihrem Sound, den ich jetzt, da ich ihre alten Texte in der „Neuen Zeitung“ lese, wieder besser im Ohr habe.

Diese Kolumne ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen. Alle Folgen finden Sie unter diesem Link.

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