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Berlin: Inge Wischnewski (Geb. 1930)

Frühmorgens, bevor ihre Sportler kommen, ist der Staatschef dran.

Der Eis- und Rollsportverein Weißenfels verlangt eine Mark Monatsbeitrag. Zu teuer eigentlich für Inge Wischnewskis Eltern. Andererseits – die Tochter eine Eiskunstläuferin! Na gut. Sie läuft auf „Absatzreißern“, die so heißen, weil sich die Kufen und der Absatz, an den sie geschraubt sind, gern vom Schuh verabschieden. Inges erste echte Schlittschuhstiefel sind aus Handschuhleder. Die Kostüme näht sie selbst aus Stoffresten, eine blau gefärbte Unterhose des Vaters wird zur Strumpfhose. So sah eine echte Pirouettenkönigin aus.

Etwa 60 Jahre, vier DDR-Meistertitel im Rollschuh- und vier im Eiskunstlaufen später erinnert sich Inge Wischnewski: „Ich war nicht besonders begabt, aber fleißig.“ Dass sie bescheiden war, das darf damit als bewiesen gelten.

Sie geht nach Berlin, trainiert, isst und schläft in der Werner-Seelenbinder- Halle. Trainiert wird auch spät am Abend und nachts, weil tagsüber die Eishockeyspieler hakeln. Sie träumt von der großen Karriere als Einkunstlaufmeisterin.

Ein Anruf von Manfred Ewald, dem Vorsitzenden des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport, beendet den Traum. „Inge, du kannst nach Budapest mitfahren!“ Dort findet die Europameisterschaft 1955 statt. – „Toll!“ – „Du missverstehst mich. Du fährst als zukünftige Trainerin.“ Für einen Weltmeistertitel sei sie mit 25 zu alt. Vorsichtshalber nimmt sie doch die Schlittschuhe mit. Aber das Komitee hat gesprochen. Es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass die Funktionäre über Inge Wischnewskis Schicksal entschieden.

Trainerin also. Ihrem Ehrgeiz tut das keinen Abbruch: Sie trainiert Christine Errath, die drei Mal Europameisterin wird, Olympia-Dritte und Weltmeisterin. Uwe Kagelmann gewinnt zweimal Olympia-Bronze im Paarlaufen, Rolf Österreich wird Olympia-Zweiter im Paarlauf.

Über 45 Jahre lang lebt sie mit ihrem Mann Heinz in einer Plattenbauwohnung, in Hohenschönhausen, nicht weit vom Sportforum. 1958 kommt Ina zur Welt, die mit 18 Monaten in die Wochenkrippe kommt. Mama muss arbeiten.

Sie trainiert auch Walter Ulbricht. Er hat seine Frau auf dem Eis kennen gelernt und will Walzer laufen lernen. Frühmorgens, bevor ihre Sportler kommen, ist der Staatschef dran.

Nicht, dass ihr das gegenüber den Funktionären viel gebracht hätte. Die „Auswertungen“ nach Meisterschaften sind gefürchtet. Sie muss erklären, warum etwa Janina Wirth bei der EM 1983 nur achte geworden ist und nicht – planmäßig – mindestens siebte. Wischnewski gerät in solchen Situationen in eine Zwickmühle: Einerseits will sie sich vor ihre Sportler stellen. Andererseits legt sie auch ihnen gegenüber große Härte an den Tag, wie sie in einem Interview eingesteht, das in dem Buch „Die Pirouettenkönigin“ abgedruckt ist: „Heute tut es mir leid, welch hohes Trainingspensum man dem kleinen Bernd Wunderlich auferlegte. Als jüngsten Läufer hatte man ihn zur EM in Göteborg regelrecht gefeiert. Bernd wurde damals Elfter. Er sollte trainieren wie ein Erwachsener. Ich habe gesagt: ‚Wir machen ihn kaputt, überfordern ihn.‘ Ich gebe mir auch Schuld daran, dass Bernd dann nicht mehr wollte und aufhörte.“ Bei aller Dankbarkeit lassen viele ihrer früheren Zöglinge heute durchblicken, dass Inge Wischnewski eine harte Trainerin war.

Bei internationalen Wettkämpfen bekommt sie sieben Deutsche Mark Tagessatz für Verpflegung. Doch sie lebt von mitgebrachten Konserven. Das Geld spart sie für eine neue Perücke. Und für Schallplatten mit neuen Stücken für die Kür.

1966 kommt Ralph Borghard, den sie trainiert hat, von der Weltmeisterschaft in Davos nicht mehr in die DDR zurück. Fortan startet ein dreifacher DDR-Meister und Olympiateilnehmer von 1965 für die Bundesrepublik. Eigentlich sollte er zuvor für internationale Wettkämpfe gesperrt werden, weil er mit Konkurrenten aus dem kapitalistischen Ausland geredet hatte. Wischnewski aber hatte bei Erich Mielke vorgesprochen und für Borghard gebürgt. Als der flüchtet, muss sie zur Strafe ihre Meisterschüler abgeben. Zwischen den beiden gibt es auch später keine Versöhnung mehr.

Als Christine Errath 1976 ihre Karriere beendet, tut sie es gegen den Willen der Funktionäre. Wieder ist Wischnewski die Schuldige, wieder muss sie ihre Meisterschüler abgeben und von vorne anfangen.

1985 wird sie als Trainerin verabschiedet, trainiert aber noch einzelne Schüler. Mit der Wende tut sie sich schwer: „Ich gehöre nicht zu den sogenannten Wendehälsen“, sagt sie, und außerdem: „Auf unsere langjährigen Erfahrungen legte man im gesamtdeutschen Eislaufsport kaum noch Wert.“

1991 geht sie nach Norwegen, um dort dem Nachwuchs auf die Beine zu helfen. Sie bereist das Land auf der Suche nach Talenten, die Kälte auf dem Eis tut ihren Gelenken nicht gut, aber egal: „Plötzlich war ich wieder anerkannt und nicht das fünfte Rad am Wagen.“

Nach fünf Jahren kehrt sie nach Berlin zurück, noch bis 2001 trainiert sie eine Läuferin. 2003 fährt sie mit ihrer Tochter zur WM nach Dortmund, steht ab acht Uhr früh an der Bande, sieht beim Training zu und bleibt bis Mitternacht. Andreas Unger

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