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Berlin: Ingeborg Degwart (Geb. 1933)

"Sie sagen etwas anderes. Sie sagen: nicht ehelich."

Ein Kind geisterte durch ihre letzten Tage: „Ich muss es aus der Familie holen“, sagte sie im Infektionsfieber. War es eine Erinnerung aus der Zeit, als sie Fürsorgerin des Bezirksamtes Wilmersdorf war? Damals, in den sechziger und siebziger Jahren, half sie in Not geratenen Familien, kümmerte sich um die Kinder, bereitete Adoptionen vor und suchte Pflegeeltern.

Sie selbst war bei Mutter und Tante aufgewachsen. Sie lebte bei ihnen, bis sie starben. Eigene Kinder hatte sie nicht. Von ihrem Vater kannte sie weder den Namen noch hatte sie ihn jemals auf einem Foto gesehen. Die Mutter schwieg. War er Jude gewesen? Hatte sie ihr Temperament und die Vorliebe für jüdische und orientalische Kultur von ihm? Ingeborg Degwart stellte es sich so vor.

Mit Freude und Inbrunst sang sie als junges Mädchen in Messen und Andachten. In St. Paulus, bei den Dominikanern, fühlte sie sich aufgehoben. Im Heliand-Bund katholischer Mädchen und Frauen rief ihr niemand Schmähungen hinterher. „Warum sagen sie in der Schule, ich bin nicht ehrlich?“, fragte sie ihre Mutter. Der Mutter fiel die Erklärung schwer: „Sie sagen etwas anderes. Sie sagen: nicht ehelich.“

Krankenschwester, Sozialarbeiterin, etliche Praktika und Fortbildungen – ein intensives frühes Berufsleben. Dann, mit 40, machte Ingeborg Degwart das Abitur nach. Die Zulassung zur Begabtenprüfung des Berliner Senats erkämpfte sie vor Gericht. Neue Wege wagen, Risiken eingehen, das waren Lebenserfahrungen von ihr, die sie immer wieder anderen zu vermitteln versuchte. Nach dem Pädagogikstudium wurde sie Professorin an der Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Sie entwickelte Supervisionskonzepte und machte eine Ausbildung zur katholischen Religionslehrerin. Ihre Gabe, einfühlsam zuzuhören, brachte ihr unter Ordensschwestern den Ruf eines „Beichtmütterchens“ ein. Wo andere nicht weiter wussten oder nicht weiter wissen wollten, durchbrach sie die Mauern. Bei der Bibelauslegung kultivierte sie eine ungewöhnliche Methode. Per Assoziation entwickelte sie aus einem Psalm verwandte Begriffe und Ausdrücke und schrieb diese versetzt untereinander. So kam sie zu überraschend neuen Einsichten.

Katholischer Glaube und Alltag bedeutete für sie nicht eine Rückkehr in die lateinische Tradition. Ebenso wenig hieß sie es gut, wenn der Kirchenaltar zum Gemeindefest in einen Imbiss-Stehtisch verwandelt werden sollte. Als sie nach Jahrzehnten pädagogischer Betreuung der katholischen Pfadfinder feststellte, dass sich ausgerechnet für die Jüngsten kein Betreuer mehr fand, der am Lagerfeuer auch einen Blick in die Bibel werfen mochte, plädierte sie, so schwer es ihr fiel, für den Ausschluss der Gruppe aus den Gemeinderäumen.

Kurz nach der Wende wechselte sie mit großen Hoffnungen zur Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Karlshorst. Dort erlebte sie Eitelkeiten und Ränkekämpfe unter Kollegen; das alles hatte so wenig zu tun mit ihren katholischen Idealen. Sie war enttäuscht, gab ihr Engagement aber nicht auf.

Erfüllung fand sie in ihrer „Villa Ingeborg“, einem alten Bauernhaus im Wendland. Sie hatte es sanieren und zur Freizeit- und Tagungsstätte umbauen lassen. Dorthin organisierte sie Kinder- und Jugendfahrten. Die Jungs schliefen in Schlafsäcken auf dem Heuboden, die Mädchen im Haus in Stockbetten. „Pizza, Papst und Petersdom“ war das Motto einer religiösen Kinderwoche. Vom Balkon aus, in fantasievoller Verkleidung, wurde eine Papstaudienz für die Kinder simuliert. Die waren begeistert vom Heiligen Vater im rot-goldenen Teppichgewand.

Vier Tage wichen die Freunde nicht von ihrer Seite. Man betete und sang gemeinsam und nahm Abschied. Wer das Kind war, das durch ihre Träume geisterte, erfuhr niemand. In ihrem letzten Brief sah sie sich als eine der fünf klugen Jungfrauen ins Paradies einziehen. Sie hatte so viel Öl geschöpft, sagen die Freunde, dass es für die fünf törichten Jungfrauen des Bibelgleichnisses, die kein Öl für ihre Lampe dabei hatten, ebenso ausgereicht hätte.

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