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Berlin: Ingrid Junge (Geb. 1931)

Während sie Turmfrisuren baut, kümmert sich ihr Mann um die Finanzen

Es muss diesen Moment in Ingrid Junges Leben gegeben haben, als alles möglich schien.

Da ist sie Ende zwanzig, hat gerade ihre Meisterprüfung als Frisörin abgelegt, und der Mann, den sie liebt, hält um ihre Hand an. Sie haben sich beim Tanzen kennengelernt. Schön ist er, er sieht sogar ein kleines bisschen verwegen aus. Endlich geht es los, das echte, große Leben. Das Hochzeitsfoto der beiden zeigt zwei perfekt in Form gelegte Lockenköpfe, sie blond, er schwarz. Sie schauen sich an und Ingrid lacht. Sie macht nicht dieses verträumt romantische Hochzeitsgesicht, wie es Fotografen in ihren Vitrinen ausstellen. Sie strahlt ihren Mann an, und er strahlt zurück.

Die beiden kennen sich noch nicht lange und machen die Pläne Frischverliebter. Natürlich wollen sie Kinder, eine richtige Familie. Ingrid wünscht sich einen eigenen Frisörsalon. Mit dem Mann an ihrer Seite traut sie sich in die Selbstständigkeit. Sie investiert ihr Erspartes und das ihrer Eltern und eröffnet einen Salon in der Bozener Straße, Schöneberg. Anfang der sechziger Jahre war „schick“ noch ein Kompliment ohne jede Ironie – und die Bozener Straße war schick. Während Ingrid Turmfrisuren für ihre eleganten Kundinnen baut, kümmert sich ihr Mann um die Finanzen.

Doch irgendwann merkt Ingrid, dass etwas nicht stimmt. Die Lieferanten beschweren sich, dass Zahlungen ausbleiben. Und nicht nur die Zahlungen, auch der Mann selbst bleibt gern mal aus. Eines Abends folgt Ingrid ihm. Sie sieht ihn die Eingangstür eines Wohnhauses aufschließen. Sie wartet ein wenig auf der Straße, dann klingelt sie. Eine Frau öffnet die Tür, die neue Verlobte ihres Mannes.

Heiratsschwindler nennt man so einen. „Meine große Liebe“ wird Ingrid 50 Jahre später einmal sagen. Das Hochzeitsbild hat sie bis zum Ende behalten. Und seinen Nachnamen.

Als Ingrid Junge sich scheiden lässt, ist ihre Tochter Jaqueline ein Jahr alt. 1961 beginnt es von neuem, das echte Leben: Ingrid Junge ist alleinerziehende Mutter mit Vollzeitjob und 25 000 Mark Schulden. Sie bleibt in ihrem Salon, 20 Jahre lang, sechs Tage die Woche. Sie trägt weiterhin ihr strahlendes Lächeln. Betritt sie einen Raum, wird sie bemerkt. Sie ist laut und auffällig, sie raucht und trinkt Bourbon. Doch hinter der burschikosen Fassade schleicht sich Müdigkeit und Erschöpfung in Ingrids Leben. Im Salon beginnt sie, eine Perücke zu tragen. Ihr fehlt die Kraft, sich jeden Tag auch noch um die eigenen Haare zu kümmern.

In der Kneipe gleich neben ihrer Wohnung lernt sie ihren zweiten Mann kennen. Mit ihm spielt sie Skat, sie machen Ausflüge, sie gewöhnen sich aneinander. Keine Illusionen, keine großen Versprechen.

Ingrid erzählt gern, wie sie einmal abends zusammensaßen und er einfach nicht für gute Stimmung sorgen wollte. „Wenn du nicht gleich was sagst, schütt’ ich dir’n Eimer Wasser über’n Kopf“, habe sie gerufen. Er hat nichts gesagt, und sie hat ihm das Wasser übers Haar gegossen.

Er kommt nicht richtig gut weg, dieser brave, leise Mann, wenn die laute, lustige Ingrid Geschichten erzählt. Es dauert 20 Jahre, bis sie sich entscheiden, zusammenzuziehen. Und wenn sie einkaufen gehen, zahlt jeder genau die Hälfte. Er ist ein Mann, der demonstrativ die Uhr auf den Tisch stellt, wenn Ingrid mit ihren Freundinnen in der Küche feiert. Ein Mann, mit dem sie dreißig Jahre lang zusammen ist, und den sie nie heiratet. Da kann er sie noch so oft fragen. Ein Mann aber auch, den ihre Tochter Jaqueline noch heute ihren eigentlichen Vater nennt.

Verwandtenbesuche, Stadtbummel oder erster Schultag – Ingrid nutzt jeden Anlass, um den Lockenstab zu zücken und Jaqueline gegen ihren Willen in Shirley Temple zu verwandeln. Da redet ihr niemand rein. Erziehung ist allein Ingrids Sache. Der „Vater“ vermittelt, gleicht aus, bietet Ablenkung in einer Mutter-Tochter-Beziehung, die ebenso eng wie konfliktreich ist. „Mir geht es nur gut, wenn es dir gut geht“ – mit diesem Satz wächst Jaqueline auf. Bis die Tochter 30 ist, besteht Ingrid darauf, ihre Miete zu zahlen. Ja, das sei wahnsinnig großzügig gewesen, sagt Jaqueline. Doch so viel Mutterliebe kann einen auch erdrücken. Denn es waren damit auch Erwartungen verbunden. Nur welche? Egal ob Blumen, Theaterkarten oder ein Besuch in der Oper: Geburtstagsgeschenke wies sie oft unter Geschrei und Tränen zurück: „Ihr wisst doch alle nicht, was ich brauche!“

Ingrids Beziehung zu ihrem zweiten Mann zerbricht 1997. Sie bleibt jetzt am liebsten den ganzen Tag im Bett, pflegt sich nicht mehr und erteilt vom Schlafzimmer aus Befehle.

In der Nacht, als Ingrid Junge stirbt, wacht Jaqueline um zwei Uhr auf. In dieser Stunde hört das Herz ihrer Mutter auf zu schlagen; das erfährt sie später im Krankenhaus. „Ich habe diese Erleichterung gespürt“, sagt Jaqueline ,,die hat sie mir geschickt. Ich wusste, nun kann sie endlich zur Ruhe kommen.“ Nadia Pantel

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