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Gerlinde König bei ihrem Praktikum in der Kreuzberger Nostitzstraße.

©  Kitty Kleist-Heinrich

Initiative „Perspektivwechsel“: AOK-Vizechefin macht Praktikum in Kreuzberger Obdachlosenheim

Ein Kreuzberger Wohnprojekt lädt Führungskräfte zum Praktikum ein. Jetzt verbrachte die AOK-Vizechefin dort eine Woche – und sah das Leben anders.

Peter hat lange gespart. Nun prangt der große Flachbildfernseher auf der Holzkommode seines etwa fünfzehn Quadratmeter großen Zimmers. TV-Richter Alexander Hold muss seine Fälle aber ohne Ton lösen, denn Peter, Bewohner des Kreuzberger Obdachlosenheims in der Nostitzstraße, hat Besuch bekommen. Die neue Praktikantin schaut gegen Mittag auf einen Schnack vorbei. Zwar ist Gerlinde König mit ihren 61 Jahren keine ganz junge Praktikantin. Ansonsten käme aber wohl niemand auf die Idee, dass ihr Arbeitsplatz eigentlich nicht in der Einrichtung für alkoholkranke obdachlose Männer ist, sondern – nur wenige hundert Meter weiter, aber in einer völlig anderen Welt – in den Führungsetagen der AOK in der Wilhelmstraße.

„Mit 16 hab ich angefangen zu klauen, vor allem Schnaps“, erzählt Peter, der im Rollstuhl sitzt, seit ihm nach seinem zweiten Schlaganfall ein Bein abgenommen wurde. „Drei Jahre hat keiner was gemerkt, später dann hamse mich fünfmal hinter Gitter gebracht.“ Er kommt richtig in Fahrt, Gerlinde König hört zu, fragt nach, ihre raue Stimme hat etwas Beruhigendes. Die beiden verstehen sich ganz gut.

Bei "Perspektivwechsel" treffen Führungskräfte auf Mittellose

Die stellvertretende Vorsitzende der AOK Nordost hat sich eine Woche Urlaub genommen, um mal Pause von dem einen Job zu machen und in den anderen reinzuschnuppern – und mit anzupacken. „Berührungsängste darf man bei uns nicht haben“, sagt Werner Neske, Leiter des Wohnprojekts und Initiator von „Perspektivwechsel“. Bei dem Projekt können Führungskräfte den Alltag von Menschen kennenlernen, mit denen sie sonst nicht in Kontakt kommen.

Ganz neu ist die Idee nicht, die Organisation „Seitenwechsel“ vermittelt seit 1995 Praktika für Manager in sozialen Einrichtungen in der Schweiz, seit 2000 auch in Deutschland. Bei „Seitenwechsel“ muss das Unternehmen, das einen Praktikanten entsendet, mehr als 2000 Euro dazuzahlen, für Kostendeckung und als „Aufwandsentschädigung“ für die soziale Einrichtung. Das ist bei „Perspektivwechsel“ anders. Ein besonderer Aufwand wird in der Nostitzstraße für die ungewöhnlichen Praktikanten ohnehin nicht betrieben. „Für die Männer bin ich einfach Gerlinde, die neue Praktikantin“, sagt König. Auch für die Bewohner ist das ganz normal: „Ach, wir sind gewöhnt, dass hier dauernd andere Gesichter auftauchen“, sagt einer der Männer. Es kommen regelmäßig Praktikanten, aus Krankenhäusern oder Schulen. „Unser Ansatz ist es, dass die Menschen wieder solidarischer mit ihrer Umwelt werden“, sagt Werner Neske. Gerade hier, im zunehmend reichen Kreuzberg direkt um die Ecke vom schicken Bergmannkiez, ist das wachsende Gefälle zwischen den sozialen Schichten deutlich spürbar.

Eine Woche lang guckt Gerlinde König den Sozialarbeitern und Krankenpflegern über die Schulter. Im Sozial- und Kulturzentrum in der Gitschiner Straße, das ebenfalls von Werner Neske geleitet wird, hilft sie bei der Bewirtung. Aber vor allem nimmt sie sich Zeit für die Männer. „Anfangs waren einige etwas zurückhaltend, aber das hat sich schnell gelegt“, erzählt die Brillenträgerin mit den knallroten Lippen und der kurzen Wuschelfrisur mit einer roten und einer blonden Strähne. „Vorhin haben sie über meine Frisur geredet, die fanden sie toll. Die können richtig charmant sein.“ Darüber täuscht aber nicht hinweg, dass in der Nostitzstraße die ganz harten Fälle landen. Im Obdachlosenprojekt leben 44 Männer, fünfzig und älter, einige schwer krank, viele waren jahrelang auf der Straße. Der Bewohner, der am längsten in der Nostitzstraße lebt, ist schon 15 Jahre da, genauso lange, wie es die Einrichtung um Werner Neske und sein zehnköpfiges Team gibt.

Manager, Banker und Politiker kommen mit sozialen Härtefällen in Kontakt

Wie alle Mitarbeiter fängt Gerlinde König um acht an. In ihrem anderen Job beginnt der Tag häufig schon morgens um sechs und dauert bis in die Nacht. Trotz Führungsposition ist sie bodenständig geblieben: „Ich bin ja nicht als Vorstandsmitglied geboren.“ Schon während der Ausbildung zur Sozialversicherungsangestellten sei sie mit den Schwächen der Gesellschaft in Berührung gekommen, denen sie bei der Pflichtversicherung half.

Ein Vattenfall-Manager kam schon zum Würstchengrillen, als nächster Praktikant hat sich ein Banker aus Frankfurt am Main angekündigt. Werner Neske wünscht sich, dass auch mal Politiker in der Nostitzstraße Station machen: „Vor allem aus dem sozialen Sektor. Die treffen oft irgendwelche abgehobenen Entscheidungen und haben keine Ahnung von der Realität.“ Die ist in der Nostitzstraße ziemlich rau. „Wir nehmen die Männer so an, wie sie sind, ob dreckig oder betrunken“, sagt eine Mitarbeiterin. Die Bewohner bekommen ein kleines Taschengeld, davon dürfen sie sich auch Alkohol kaufen – in Maßen. „Wer jahrelang auf der Straße gelebt hat und schwer alkoholabhängig ist, dem kann man nicht mit Regeln kommen.“ Einzige Ausnahme: Wer gewalttätig wird, fliegt raus.

Nach dem Mittagessen sitzen ein paar Bewohner im Gemeinschaftsraum, Gerlinde König schnackt mal hier, schäkert mal dort: „Hast du dein Taschengeld schon wieder für Kippen ausgegeben?“, „Spielst du mir gleich was auf der Gitarre vor?“ Matze hockt friedlich vor seinem Bier, die Füße stecken in Latschen, das graue Haar ordentlich zurückgekämmt, der grobporigen Haut ist das jahrelange Trinken anzusehen. Was hält er von Praktikantin Gerlinde? „Die soll bleiben, das habe ich ihr schon gesagt. So eine wie sie können wir hier gut gebrauchen.“

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