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Jeden Montag trifft sich die Vätergruppe in Neukölln und tauscht sich über Probleme aus.

© Sidney Gennies

Initiativen in Neukölln: „Ehre“, „Schwäche“, „Stärke“ hinterfragen

Zwei Initiativen in Neukölln versuchen, mit traditionellen Rollenbildern zu brechen. In der "Vätergruppe" und bei "Heros" sollen alte und junge Muslime lernen, das Konzept "Ehre" zu hinterfragen. Probleme gibt es trotzdem.

Die Wände in dem kleinen Raum in der Uthmanstraße in Neukölln sind gespickt mit Zeugnissen des Erfolgs. Auszeichnungen, Urkunden, Zeitungsartikel über soziales Engagement. Doch die Männer, die um den weiß lackierten Tisch in der Mitte sitzen, sind hier, weil sie auch verloren haben. Dursun Güzel hat seine weißen Haare streng nach hinten gekämmt. Er trägt einen schlichten braunen Pullover mit Strickmuster, einen stattlichen Schnauzer und verrührt den Zucker in dem Glas schwarzen Tees vor sich. Vor 40 Jahren ist der 69-Jährige aus Anatolien nach Deutschland gekommen, hat seine Kinder und deren Kinder in Berlin aufwachsen sehen. Doch ganz angekommen ist er in diesem Land nie. Die Heimat, die Traditionen in Anatolien sind ihm noch immer viel vertrauter. Er ist hier, um damit zu brechen.

Güzel gehört zum harten Kern der Vätergruppe türkischer Männer, die sich jeden Montag in dem etwas karg eingerichteten Büroraum trifft, dessen gardinenlose Scheiben den Blick freigeben auf den Kiez zwischen Karl-Marx-Straße und Sonnenallee. Ein Viertel, in dem so viele verschiedene Nationalitäten und Kulturen aufeinandertreffen wie sonst selten in Berlin. Und wo die Menschen doch nebeneinander herleben, ohne sich kennenzulernen. Jahrzehntelang. Der Psychologe Kazim Erdogan hat den Stammtisch, der eher eine Therapierunde ist, vor sieben Jahren gegründet. Gut ein Jahr, nachdem Hatun Sürücü an einer Bushaltestelle in Tempelhof von ihrem Bruder mit Kopfschüssen hingerichtet worden war. Weil sie anders war, weil ihr Lebensstil und ihre Wertvorstellungen mit denen ihrer anatolisch-kurdischen Familie kollidierten. Ein „Ehrenmord“ soll es gewesen sein und hatte doch nichts Ehrbares. Die gut 30 Männer, die nun jeden Montag zu Tee und Gesprächen zusammenkommen, wollen verhindern, dass so etwas wieder geschieht. Und doch haben sie früher indirekt selbst zu einem Klima beigetragen, in dem ein Ehrenmord auch in Deutschland einfach so passieren konnte.

„Ich bin in patriarchalischen Strukturen aufgewachsen“, erzählt Güzel. Er spricht türkisch. Sein Deutsch, sagt er, sei auch nach all den Jahren nur „Kauderwelsch“. „Ich habe meine Frau herumkommandiert. Ich habe mit meinen Kindern nur im Befehlston geredet“, sagt er heute. So hat er es von seinen Eltern gelernt. So hat er es seine Kinder gelehrt. „Ich kann das mit meinen Kindern nicht wieder gutmachen. Aber ich versuche, bei meinen Enkeln wieder aufzuholen, was ich versäumt habe.“ Heute kämen die mit Sorgen und Problemen zu ihm, mit denen sie sich nicht zu ihren Eltern trauten. In Erdogans Vätergruppe hat er das erste Mal gelernt, sich so zu öffnen. „Es macht mich glücklich“, sagt Güzel.

Kazim Erdogan sitzt an der Stirnseite des Tisches und moderiert das Gespräch. Er kennt die Geschichte jedes Einzelnen im Raum. „Manche saßen genau hier und haben stundenlang geheult“, sagt er ganz ruhig. Weil sie ihre Frauen geschlagen haben, ihre Töchter. Weil sie bereut haben, sich ändern wollten, aber mit niemandem darüber sprechen konnten. Ein Mann aus der hinteren Reihe ruft dazwischen: „In der anatolischen Kultur sprechen wir nicht über Gefühle“, sagt er. „Was in der Familie passiert, bleibt in der Familie.“ Bei seinen „Freunden“ könne er seine Emotionen nicht auf den Tisch packen. Nur hier. Es wäre sonst ein Zeichen von Schwäche. Und immer wieder schwingt da auch dieses diffuse Verständnis von Ehre mit.

"Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre"

„Ehre“, „Schwäche“, „Stärke“. Es sind diese Worte, die Kazim Erdogan seit Jahren beschäftigen. Noch heute sagen einige der Männer, man könne diese Worte nicht erklären, man müsse sie erleben. Es sind diese Momente, in denen der sonst so verständnisvolle Erdogan hart bleibt: „Die Konzepte von ,Ehre’ sind nur auswendig gelernt“, sagt er dann. Sobald er die Männer damit konfrontiert, fällt die Argumentation in sich zusammen. Dann bedeutet Ehre nicht mehr als das, „was sie eben von ihren Vorfahren gehört haben“. Erdogan stellt das althergebrachte Konzept auf den Kopf: „Ich bin ein Mann, ich bin stark, ich habe Ehre“, muss er sich oft anhören. „Aber wenn es dann um Ehre geht, dann liegen sie auf dem Boden und sagen weinend, ihre Frauen oder ihre Töchter müssten diese Ehre verteidigen“, sagt Erdogan. Ein Widerspruch. Die Gruppe hat darüber Dutzende Gespräche geführt und sich auf einen relativen Konsens geeinigt. Dass Ehre nichts mit Gewalt zu tun haben darf. Außerhalb der Meetings engagieren sich die Männer jetzt im Kiez, tragen die Diskussion in die Spielhöllen und in die Familien zurück, organisieren Veranstaltungen. Nicht überall kommt das gut an. Die alten Weggefährten, mit denen sie schon damals zusammen Haus und Hof verzockten, soffen, sich in der Parallelwelt der „Männercafés“ versteckten, schauen nun teils missbilligend auf die Väter, erzählt einer. Jeder für sich ist ein Patriarch – so haben sie sich jahrelang verstanden. Doch auch sie müssen nach den Regeln spielen, wenn sie akzeptiert werden wollen.

Sie können, ja sie müssen sich ihre Bestätigung nun woanders holen. Besser so, sagt Erdogan. Das Ehrgehabe und die Gewalt habe ihnen nur die Angst und nicht den Respekt ihrer Mitmenschen eingebracht. Durch ihr soziales Engagement bekämen sie nun die Anerkennung, die sie in der Gesellschaft zuvor nie erfahren durften. Weil sie sich nicht integrieren konnten. Oder wollten.

Arbeit für Männer sei das, Täterarbeit in einigen Fällen, ja, sagt Erdogan. Aber auch Arbeit für Frauen, die sie so schützen könnten. Für Frauen wie Hatun Sürücü, deren Schicksal bei jeder Diskussion immer mitgedacht wird. Ein Schicksal, das kein Generationenproblem war. Als ihr Bruder sie erschoss, war er gerade 18 Jahre alt.

Nur ein paar Straßen weiter in der Nähe des Hermannplatzes hat deswegen Yilmaz Atmaca sein Büro. Der 42-Jährige arbeitet hier mit seinen „Jungs“, wie er sie nennt. Junge Menschen, die aus einem Kulturkreis kommen, „in dem Ehre das Leben anderer Menschen definiert“, sagt Atmaca. Er ist Gruppenleiter des Vereins „Heroes gegen Unterdrückung im Namen der Ehre“. An der Wand hängen Plakate von früheren Workshops, Auszüge aus dem Grundgesetz und ein paar Fotos von Veranstaltungen. Atmaca wählt jede Geste mit Bedacht, wenn er vom Heroes-Projekt erzählt. Er ist Schauspieler. Theaterpädagoge mit Ausbildung an der Universität der Künste. Die jungen Menschen, die zu ihm kommen, proben in Rollenspielen, das eigene Rollenverständnis zu hinterfragen. „Sie merken, dass irgendetwas falsch läuft, aber sie können es nicht artikulieren“, sagt Atmaca. Sie kennen es nicht anders. In ihren Familien haben sie gelernt, dass starke Frauen Probleme bekommen. Genau wie schwache Männer. Aber sie wollen es ändern.

Ein Jahr lang trainieren sie, treffen sich wöchentlich. Damit sie später gewappnet sind, selber solche Diskussionen und Workshops zu leiten, an Schulen und Jugendzentren. 6000 Schüler wurden so schon erreicht, sagt Atmaca. Ob die Aktionen Erfolg haben, lässt sich nur schwer beweisen. Atmaca sagt, er sieht es in den Augen der Jugendlichen. Wenn es beginnt hinter ihrer Stirn zu rattern. Sichtbarer wird es durch die Preise, die gestapelt in der Ecke liegen. Der Bambi, den Rabbiner Daniel Alter den Heroes letztes Jahr gewidmet hat, zahlreiche Urkunden und Integrationspreise. In der Gesellschaft sind die Heroes längst angekommen. Dennoch droht das Projekt zu scheitern. Am 11. April startet die fünfte Generation der „Heroes“. Es könnte die letzte sein. 120 000 Euro braucht der Verein jedes Jahr. Die Finanzierung durch die Childhood Foundation läuft langsam aus. „Ab dem Sommer ist alles offen“, sagt Atmaca. Die Probleme bleiben. Erst kürzlich saßen bei ihm zwei Brüder. Sie verfolgten ihre Cousine auf Schritt und Tritt. Als Atmaca nachfragte, wussten sie nicht einmal genau, warum.

Opfer archaischer Werte

Für Behörden und Sozialforschung ist das Phänomen schwer zugänglich: Die Unterdrückung von Frauen und Mädchen im Namen der Ehre findet oft hinter verschlossenen Türen statt, in Familien, die sich gegen die Außenwelt, zumal die einer liberalen Mehrheitsgesellschaft, abschotten. Wie viele Frauen in Deutschland einen Ehepartner gegen ihren Willen heiraten müssen, ist seriös kaum zu schätzen. Eine Studie des Bundesfamilienministeriums ergab, dass 44 Prozent der von Zwangsverheiratung Betroffenen oder Bedrohten die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, 95 Prozent sind weiblich, mehr als die Hälfte erlebt körperliche Gewalt, 27 Prozent werden mit einer Waffe oder mit Mord bedroht. Die meisten Zwangsverheirateten entstammen muslimischen Familien. Die Untersuchung basiert auf Angaben von bundesweit 830 Beratungseinrichtungen aus dem Jahr 2008. Seit 2011 ist die Zwangsheirat in Deutschland als eigenständiger Straftatbestand definiert. Eine bundesweite Debatte über die bedrohliche Zwangslage von Mädchen und Frauen in archaischen Familienstrukturen hatte der sogenannte Ehrenmord an der kurdischstämmigen Berlinerin Hatun Sürücü 2005 ausgelöst. Einer ihrer Brüder hatte die 23-Jährige getötet, weil die Familie ihren modernen Lebensstil missbilligte.

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