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Berlin: Inspektion im Tierreich

Eine Nacht und einen Tag lang zählten Biologen die Bewohner des Tiergartens

Der Tiergarten hat seinen Namen nicht ohne Grund: Haselmaus, Rotwangenschildkröte, Graureiher, Marder, Habicht, Ziegenmelker – sie alle sind auf 198 Hektar Stadtgebiet heimisch. Um Großstädter für Flora und Fauna zu sensibilisieren und die Vielfalt zu erfassen, gibt es jedes Jahr den „Tag der Artenvielfalt“. In der Nacht zu Sonnabend begann das große Zählen. Die ersten Biologen schwärmten aus: mit Detektor, Karte, Taschenlampe und Fernglas.

20.15 Uhr. Last Orders im Tiergarten. Die letzten Spaziergänger schütteln Regenschirme aus. Ein Amselmännchen flötet ein Gutenachtlied zum Revierabsichern. Jogger stapfen über Pfützen. Dann Stille.

21.30 Uhr. Ein Fahrradreifen knirscht auf dem Sand. Eine Gestalt nähert sich in der Dämmerung: Hartmut Kenneweg. Der Professor lag auf der Pirsch: Graugänse. „Zu denen sind auch die Drogensüchtigen lieb und füttern sie.“ Die Gänse wurden in Schweden ausgesetzt – und später zu Neuberlinern. Samt vier Jungtieren.

22.05 Uhr. In der Tierwelt ist die Stadt noch nicht vereinigt. Östlich vom Brandenburger Tor flattern Zwergfledermäuse, mit 20 Zentimeter Spannweite und einem Körper klein wie der halbe Daumen – die winzigsten Säugetiere Europas. Sie bevorzugen Altbauten mit Vorsprüngen und Rissen. Im Tiergarten und weiter westlich sind die größeren Breitflügelfledermäuse wie Bert heimisch. Bert kann nicht mehr jagen, ist seit fünf Jahren flügellahm und lebt bei Carsten Kallasch, 39, in Friedenau. Der Bat-Man vom Fledermausnotdienst musste schon Tiere aus dem Sitz der Bahn, Hotels und Büros auflesen. Fledermäuse verfliegen sich gern am Potsdamer Platz. Im Tiergarten herrscht heute offenbar Nachtflugverbot. Bert kuschelt sich in seine Holzkiste, keine Kumpel unterwegs. Zwischen Lichtensteinbrücke und Europacenter mit leuchtendem Mercedes-Stern leben Verwandte: Flughunde und blutsaugende Vampire im Zoo-Nachttierhaus.

22.27 Uhr. Bert wird unruhig. „Da war was“, sagt Carsten Kallasch und deutet auf den tiefschwarzen Landwehrkanal. Wasserfledermaus, die erste! Die Säuger jagen abends, weil ihre Insektenbeute im Schutz der Dämmerung fliegt. Ihre Konkurrenten, die Vögel, können Insekten dann nicht aufspüren. Fledermäuse haben einen Ultraschallsensor. Auch Kallasch wurde schon aufgeschreckt bei Exkursionen. Als er Fangnetze ausgespannt hat im Grunewald, schickten ihm Spaziergänger die Kripo auf den Hals. „Die dachten, ich mache Wehrsportübungen.“

23.11 Uhr . Man könnte Kallasch auch für einen Strahlungsexperten halten. Hinterm Café am Neuen See schlägt der Detektor an. „Wenn das menschliche Ohr die Frequenzen hören könnte, wären sie so laut wie ein Presslufthammer.“ Tausende Fledermäuse gibt es in Berlin, mit je vier Kilometer Wirkungskreis. Dutzende jagen im Tiergarten. Die Bilanz der Nacht: eher kläglich. Zu nass, zu kalt, kaum Futter, zu viele Insekten auf den Boden gespült. Nur selten knarrt der Detektor, wie Pferdegetrappel oder Techno.

2.45 Uhr . Ein Glück, dass das mit den Ravern und der Love Parade vorbei ist. Findet jedenfalls Tiergarten-Experte Christoph Schaaf. Der 65-Jährige könnte sich auch ohne das nächtliche Licht der BVG-Wartesäule vor der Philharmonie orientieren. „Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten Sie bis zum Reichstag gucken, da hatten die Berliner alles für ihre Öfen abgeholzt“, sagt der Technische Leiter des Grünflächenamtes a. D. Rund 300 000 Bäume wachsen hier heute. Bei schönem Wetter treten bis zu 30 000 Besucher auf Schnecken und Libellen und hinterlassen 19 Lkw-Ladungen Müll. Am frühen Sonntag sind es keine Hand voll. Vogelfreundin Dagmar Brunow aus Mitte war schon um Mitternacht mit einem Ornithologen unterwegs und ist erst gar nicht schlafen gegangen.

3.30 Uhr . Morgengrauen. Wir lassen das Autorauschen hinter uns und klettern ins Dickicht. Der Boden bäumt sich auf: Wurzeln. Auch dicke Bewag-Kabel verlaufen unter der Erde. Darunter wird der Tunnel gebaut. Der Grundwasserpegel muss trotzdem stabil bleiben, sonst würden die Eichenpfähle faulen, auf denen der Reichstag ruht. Dass der Sturm im Juli 2002 auch Pyramidenpappeln umgeblasen hat, tut dem Grün gut: Mehr Luft, mehr Licht. Schaaf befürchtet aber, dass künftig mehr Bäume braun werden – weniger wegen der Miniermotte, als wegen des Salzens der Straßen im Winter.

3.31 Uhr. Nach den Vögeln kann man die Uhr stellen: erst Nachtigall, dann Rotkehlchen, dann Amsel. Eigentlich. Aber auch bei der Natur-Inventur gibt es den Vorführeffekt. Eine Amsel singt – für Schaaf „die Callas der Vogelwelt“. Eine.

3.35 Uhr. Heute sind die Singdrosseln Frühaufsteher. Begrüßen den Zähltrupp mit Gesang in allen Tonhöhen. „Halt, da muss ich mein Kreuzchen machen“, sagt Schaaf und stoppt. 23 Nachtigallmännchen hat er zuletzt gezählt; 74 Vogelarten kartographiert. Doch wo ist die Amsel? „Die lässt mich doch wohl nicht im Stich.“

4.02 Uhr . Kein Dudelsackspieler, kein Trommler, kein Saxophonist. Und noch immer keine Amsel. Die Sonne leuchtet schon die Siegessäule aus. Kaninchen spielen Fangen. Irgendwo säugt eine Füchsin ihre Jungen. „Da höre ich meinen Liebling!“, sagt Schaaf. Er zieht los wie ein Hund an der Leine. „Jetzt komme ich kaum hinterher mit den Kreuzen.“

11.30 Uhr. Im Tiergarten wuselt es auf dem Gelände des Grünflächenamtes. Käferkundler Joachim Schulze ist einer der vielen Sammler. Grünen-Umweltminister Jürgen Trittin ist auch da, er lässt sich von einem Hubkran in einen Baumwipfel hieven. Das Museum für Naturkunde hat seine Mikroskopie-Station in Absprache mit dem Senat für die Analysen in den Park verlegt. Um einiges Kleinstgetier ist der Tiergarten deshalb ärmer.

18.15 Uhr . Alle strömen ins Sony-Center. Biologen-Bilanz mit Live-Schaltung nach New York: 1000 Tier- und Pflanzenarten gefunden. Am Sowjetischen Ehrenmal sogar die Heilpflanze Osterluzei– sie steht auf der roten Liste. Dann gehen die Inventur-Prüfer schlafen.

Tag der Artenvielfalt – ihn rief das Magazin „Geo“ aus. In Deutschland suchten gestern 10 000 Naturkundler in städtischem Grün nach Libellen, Rotkehlchen, Waschbären und anderem Getier. Auch in New York gab es eine Aktion. In Berlin hat die Deutsche Umwelthilfe den Einsatz von hundert Biologen im Tiergarten organisiert. 2001 fand der Tag der Artenvielfalt im nördlichen Grunewald statt: 1278 Tier- und Pflanzenarten wurden gezählt. Die aktuellen Funde werden in den kommenden Wochen ausgewertet.

Annette Kögel

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