zum Hauptinhalt
migration

© dpa

Integration: Wenig Bildungschancen für Migrantenkinder

An vielen Schulen sind sie fast unter sich: Migranten aus Unterschichtfamilien. Ohne Bezug zu anderen Nationalitäten, ohne Chance. Lehrer erzählen im Tagesspiegel.

Jeder dritte Schüler in Berlin kommt aus einer Einwandererfamilie, in Kreuzberg und Neukölln jeder zweite. Die Zahl der Schulen, in denen fast nur noch Einwandererkinder lernen, steigt von Jahr zu Jahr. Meist handelt es sich dabei um Haupt- und Realschulen, nur ein Drittel der Einwandererkinder besucht das Gymnasium. Aber ein Drittel dieser Hauptschüler verlässt die Schule ohne Abschluss und damit ohne Chance auf dem Arbeitsmarkt. Viele werden ohne ausreichende Deutschkenntnisse eingeschult; das Defizit sollen spezielle Förderkurse ausgleichen. Die seien zwar gut gemeint, sagen Lehrer und Sozialpädagogen, hätten aber keinen Erfolg in Stadtvierteln, in denen fast nur noch Familien aus der Unterschicht und mit Migrationshintergrund wohnen. Solche Viertel gibt es in Kreuzberg, Neukölln, Wedding. Für die Kinder dort gebe es keine positiven Vorbilder, lernen könnten sie allenfalls von ihren Lehrern. Das reiche nicht, um später im Berufsleben mitzuhalten. Das Fazit der Pädagogen: Kinder aus sozial entmischten Ghettos haben keine Chance. Das zeichnet sich bereits in der Grundschule ab. Über den Alltag in einer solchen Grundschule berichten im folgenden Text Lehrer und Sozialpädagogen aus Kreuzberg. Sie wollen anonym bleiben, weil sie andernfalls die Situation nicht so deutlich schildern könnten.

Sie können es nicht abwarten, in die Schule zu kommen. Der Unterricht beginnt um acht Uhr. Um halb acht steht schon eine Traube Sechs- bis Zwölfjähriger vor dem Eingang unserer Kreuzberger Grundschule. Gefrühstückt haben die wenigsten. Das holen die Lehrer mit ihnen in den Klassen nach. Das Lieblingsfrühstück vieler Kinder ist Weißbrot mit Nutella. Wenn man auf die Eltern einredet, dass das nicht gesund ist, bemühen sie sich, dunkleres Brot mitzugeben, mit Käse drauf, auch mal ein Salatblatt oder einen Apfel. Aber das ist ein großer Kraftakt, man muss immer wieder und intensiv mit den Eltern sprechen. Ein Bewusstsein von gesunder Ernährung haben die wenigsten. Außerdem ist es manchen Eltern zu viel, sich morgens mit den Kindern auseinanderzusetzen, es ist ja meist nicht nur eines da.

An manchen Schulen fehlt die Mittelschicht

Im Umfeld unserer Schule haben die türkischstämmigen Familien zwei bis drei Kinder. In den arabischen Familien sind es oft fünf bis zehn, und sie leben in Zwei- bis Vierzimmerwohnungen. Dass sich ein Mädchen acht Quadratmeter mit ihrer dreijährigen Schwester und ihrem einjährigen Bruder teilt, ist nicht ungewöhnlich. Die Eltern bauen jeden Abend das Wohnzimmer zum Schlafzimmer um. Wenn die Kinder nach der Schule in den Hort gehen, haben sie Glück. Dort können sie Hausaufgaben machen. Zu Hause gibt es dafür meist keinen Platz. Viele Kinder schlafen schlecht und können sich nicht konzentrieren, weil nachts ein Baby schreit.

Außerdem läuft immer der Fernseher. Da erleben wir Lehrer auch rührende Sachen. Neulich kam eine Kollegin in eine türkische Familie und wurde sehr nett empfangen. Der Fernseher lief. Als sie sich auf das Sofa setzte, nahm die kleine Tochter die Fernbedienung und stellte einen deutschen Kanal ein. Sie wollte ihrer Lehrerin eine Freude machen.

Einige Kreuzberger und Neuköllner Grundschulen sind inzwischen sozial vollkommen entmischt. Die Mittelschicht hat sich restlos verabschiedet. Übrig geblieben sind Unterschichtkinder, hauptsächlich aus türkischen und arabischen Einwandererfamilien. Mehr als drei Viertel der Eltern sind arbeitslos. Sie wollen alle, dass ihre Kinder einen guten Schulabschluss machen, um einen der wenigen Ausbildungsplätze zu ergattern. Viele träumen davon, dass die Söhne Ärzte oder Rechtsanwälte werden. Sie versuchen, mit den Lehrern zusammenzuarbeiten und kommen auch in die Sprechstunden. Aber sie haben keine Vorstellung davon, was ihren Kindern abverlangt wird und wie sie den Kindern helfen können. Sie sind völlig hilflos. Die meisten Mütter sind nur wenige Jahre in die Schule gegangen, häufig sind sie Analphabeten. Sie kommen aus ostanatolischen oder bosnischen Dörfern und wurden zur Eheschließung nach Deutschland gebracht. In den Mütterkursen, in denen Deutsch gelernt werden soll, wird mit ihnen wie mit Erstklässlern geübt: Sachen ausschneiden, kleben. Die Frauen sind begeistert, weil sie so was noch nie gemacht haben. Vor einem Ausflug sagte eine Lehrerin zu den Kindern: „Nehmt euch ein Buch mit.“ Ein Junge sagte daraufhin ganz stolz: „Wir haben zwei Bücher zu Hause.“ Keiner lachte.

Vor 20 Jahren war das anders, da waren in den Klassen häufig noch 50 Prozent deutsche Kinder, und die aus Einwandererfamilien kamen aus verschiedenen Kulturen. Viel wichtiger aber war, dass die Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten stammten. Alle haben gut Deutsch gesprochen und hatten andere Einblicke ins Leben, weil sie eben auch mal bei einem Mitschüler zu Hause waren, wo der Vater Physiker war oder Gerüstbauer. Heute wissen sie nicht, was ein Maurer ist. Einfach, weil es in ihrem Umkreis keine Männer gibt, die Maurer sind. Vor 20 Jahren konnten selbst Schüler aus hoch problematischen Familien ihren Weg gehen und haben gute Ausbildungen gemacht. Die hätten heute keine Chance mehr. Viele sagen: Wir haben keine Probleme mit deutschen Kindern. Sie haben ja auch gar keinen Kontakt zu deutschen Kindern. Und auch nicht mit türkischen oder arabischen Kindern aus der Mittelschicht. Denn die sind auch längst weggezogen. Die zurückgebliebenen Familien leben wie auf einer Insel mitten in Berlin. Deutschland kennen die Kinder nur von ihren Lehrern und aus den Privatsendern des Fernsehens.

Kinder aus Mittelschichtfamilien können ihren Namen schreiben, wenn sie eingeschult werden, sie sind in der Motorik weiter, weil die Väter mit ihnen Fußball spielen oder mal einen Ausflug in den Wald machen. Unsere Schüler kommen kaum raus aus ihrem Kiez. Der Vorsprung, den Mittelschichtkinder haben, mit denen sie später um die Arbeitsplätze konkurrieren müssen, ist so gewaltig, dass sie ihn nie aufholen können. Wir versuchen, den Horizont der Kinder zu erweitern, indem wir viel mit ihnen aus dem Kiez rausgehen, Museen besuchen, ins Theater gehen, Klassenfahrten machen. Dennoch können wir Lehrer die Benachteiligung allein nicht ausgleichen. Auch wenn die Kinder ab dem dritten Lebensjahr in die Kita gehen oder später in eine Ganztagsschule, ändert das nur wenig, solange sie dort den ganzen Tag nur mit anderen Kindern aus dem gleichen Milieu zusammen sind. Dann lernen sie auch kein Deutsch und sprechen Ghetto-Slang: „Ich geh Aldi“, „Frau Wilhelm, haben wir heute mit Sie?“ Auch wenn sie es richtig können, reden viele so, weil die Kiezsprache als cool gilt und ihnen ein Stück Identität und Zugehörigkeit gibt.

Zur beschränkten Lebensweise kommt die Erfahrung, in der Gesellschaft nicht willkommen zu sein. Bei Ausflügen wird uns oft nachgerufen: „Wo kommt Ihr denn her?“ oder auch mal „Kanake!“ Man braucht Selbstbewusstsein, um nicht das Gefühl zu entwickeln, dass man etwas Komisches ist. So ein starkes Selbstbewusstsein haben die Kinder nicht.

Es sind ganz normale Berliner Grundschüler. Nur, dass sie keine Chance haben. Vielleicht drei in einer Klasse bekommen eine Gymnasialempfehlung, viele müssen auf die Hauptschule. Das wissen schon die Zweitklässler. Sie sehen den arbeitslosen Vater, den Bruder, der sich vergeblich um einen Ausbildungsplatz bemüht, die arbeitslosen Cousins. Sie kriegen mit, dass die deutschen Kinder auf andere Schulen gehen und dass sie selbst dorthin gehen, wo die Versager sind. „Mein Leben ist zu Ende“, sagt ein intelligenter Zwölfjähriger, als er seine Hauptschulempfehlung bekommt. Vielleicht fängt er dann an, Autos zu knacken, weil er weiß, dass er auf legalem Wege nie Geld verdienen wird.

Viele Eltern haben selbst große psychische Probleme

Ein Junge malte sich neulich selbst ganz schwarz und als erschossene Person auf der Straße. Die Sonderpädagogin versuchte sofort, mit dem Jugendamt zu sprechen. Aber dort geht meist keiner ans Telefon, weil die Mitarbeiter überlastet sind. Sie hat dann die Familie besucht. Der Vater verdrängt die psychischen Probleme seines Sohnes so massiv, dass er gebetsmühlenartig immer nur fragte: „Ist mein Sohn jetzt besser geworden in der Schule?“ Eltern schämen sich, wenn ihre Kinder auf einer normalen Grundschule nicht mitkommen. Für viele kommt es nicht infrage, ihren Nachwuchs auf eine Sonderschule zu schicken, auch wenn dem Kind dort geholfen werden könnte.

Viele Eltern haben selbst große psychische Probleme und bräuchten Hilfe. Die Väter sind in ihrem Rollenverständnis völlig verunsichert, sollen traditionell die Ernährer der Familie sein, sind aber arbeitslos. Der Sohn kann sich mit dem Vater nicht identifizieren. Kinder haben ihre Großeltern im Krieg verloren, vor den Sommerferien sagen Drittklässler: „Ich geh Libanon, wenn Krieg vorbei ist, ich geh Irak, wenn Krieg vorbei ist.“ Viele Ehen zerbrechen. In vielen Familien gibt es Gewalt, es wird geschrien und geschlagen, aber nur wenig gesprochen. Ein türkischer Kollege vom „Arbeitskreis Neue Erziehung“ meinte, der Bedarf an therapeutischer Hilfe sei riesig, aber es gibt nicht genügend türkischstämmige Psychologen, die diese spezifischen Probleme behandeln könnten.

Damit eine Familie oder ein Kind Unterstützung bekommt, müssen sich viele Personen mit dem Problem beschäftigen: das Jugendamt, die Schulpsychologen, Schulhilfekonferenzen, Ärzte. Anträge werden gestellt, Gutachten geschrieben, Konferenzen einberufen. Wenn wir alle problematischen Fälle ans Jugendamt melden würden, kämen wir vor lauter Berichteschreiben nicht zum Unterrichten. In einer Klasse mit 24 Schülern sind oft eine Handvoll sogenannter Integrationskinder, die besonderen Förderbedarf haben. Nicht selten gibt es noch zehn weitere, für die dieser Status beantragt werden müsste. Vom Antrag bis zur Hilfe können Monate vergehen. Bekommt eine Familie Hilfe über das Jugendamt, läuft diese oft aus, bevor sich die Situation stabilisiert hat. Dann entwickelt sich alles wieder zurück.

In der Schule trainieren wir mit den Kindern, wie man Konflikte im Gespräch lösen kann. Dann sitzen sie sich gegenüber. Statt „Du scheiß Alevit“, „Du scheiß Araber“ müssen sie sagen: „Aus meiner Sicht ist das soundso...“ Langsam beruhigen sie sich dann, sie bereden, wer mit wem Fußball spielt, dann gibt es die ersten Versöhnungsangebote. Alle Kinder können das lernen. Aber dazu braucht es Zeit und Geduld – und Vertrauen. Wenn eine Schule einen Sozialarbeiter hat, dann ist dessen Vertrag oft auf ein Jahr befristet. Aber Vertrauen braucht Kontinuität. Die Kinder erleben zu Hause so viele Verletzungen und haben Angst, verlassen zu werden. So wie jener Neunjährige, dessen Eltern getrennt leben. Er fühlt sich für die Mutter und für die kleineren Geschwister verantwortlich. Auf den Vater ist er wütend. Gleichzeitig sucht er eine Person, mit der er sich identifizieren kann. Das kann der Sozialarbeiter sein. Aber wenn der nach einem Jahr geht, hat der Junge wieder das Gefühl, verlassen zu werden.

Die Chancen für ein Kind verbessern sich auch nicht, wenn es jeden Nachmittag zwei Stunden in die Koranschule geht. Immer mehr Eltern ziehen sich in die Religion zurück, weil sie sich zugehörig fühlen wollen und das am Rand der deutschen Gesellschaft kaum möglich ist. Immer wieder hören wir den Satz: „Wir wollen, dass unsere Kinder ihre Wurzeln kennenlernen.“ Das haben wir früher nicht so oft gehört.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false