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Ricardo lange arbeitet auf einer Berliner Intensivstation als Pflegekraft.

© Doris Spiekermann-Klaas

Intensivpfleger über die neue Corona-App: „Ich verstehe nicht, was die App bringen soll“

68 Millionen Euro soll die neue App kosten. Intensivpfleger Ricardo Lange findet, dass das Geld an anderer Stelle besser investiert wäre. Ein Protokoll.

Von Julia Prosinger

In den letzten Tagen gab es ein paar Ereignisse, die mich als Intensivpfleger nachdenklich gemacht haben. Die Bundesregierung hat die Corona-Warn-App rausgebracht. Wer will, kann sie sich freiwillig downloaden. Bislang haben das schon Millionen Deutsche getan. Ich bin skeptisch, was die App angeht. Wir nutzen heutzutage schon genug Anwendungen, bei denen die Datensicherheit nicht immer gewährleistet ist.

Vor allem verstehe ich nicht, was die Warnanwendung auf unserem Handy bringen soll. Denn sie erhebt doch nur Daten von denen, die die App auch nutzen. Saß neben mir im Café jemand, der sie nicht hat, weiß mein Smartphone nichts davon, die Technik kann auch nicht unterscheiden, ob die Begegnung drinnen oder draußen stattgefunden hat. Und die Gesundheitsämter sind auch ohne Anrufe der ganzen User schon überlastet.

Das Geld fehlt im Gesundheitssystem

Gerade ältere Menschen – Angehörige der Risikogruppe! – und Leute mit geringerem Einkommen nutzen möglicherweise kein Smartphone oder haben ein älteres, günstigeres Modell, dessen Betriebssystem die App nicht unterstützt. Und dann gibt es ja auch immer wieder völlig symptomlose Infizierte. Diejenigen, die das Tragen einer Maske für nutzlos und das Virus für ungefährlich halten, werden diese App ohnehin nicht heruntergeladen.

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Ich habe gelesen, dass sich die Gesamtkosten der App inklusive Entwicklung, Wartung, Werbung und Tests auf bis zu 68 Millionen Euro belaufen. Wenn ich mir den Personalmangel auf den Stationen, auf denen ich eingesetzt war und bin, so anschaue, dann schmerzt diese Zahl. Dafür ist Geld da, für das Gesundheitssystem nicht. Außerdem gab es vergangene Woche einen Corona-Ausbruch in Neukölln, einen neuen Hotspot, und der R-Wert ist in Berlin wieder gestiegen. Jetzt machen sich viele Sorgen, dass ein zweiter Lockdown kommt.

Wir haben Corona gut im Griff

Ich finde den neuerlichen Ausbruch nicht überraschend: Wo viel getestet wird, gibt es eben auch viele Ergebnisse. Und natürlich verbreitet sich das Virus dort, wo viele Menschen eng zusammenkommen, schneller. Sagt uns das etwas über den allgemeinen Zustand der Pandemie?

[Die anderen Folgen der Kolumne "Außer Atem" mit Ricardo Lange lesen Sie hierhier, hier, hier, hier und hier]

Auf meiner Station ist die Situation unverändert: Wir haben einige Covid-19-Fälle, hätten aber noch Kapazitäten für mehr. Verstehen Sie mich nicht falsch, nach den vergangenen Wochen, in denen ich viele solche Patienten gepflegt habe, unterschätze ich das Virus ganz und gar nicht. Ich weiß, wie tückisch es ist und wie es nach und nach alle Organe lahmlegen kann. Aber wir haben Corona in Deutschland gut im Griff und ich bin zuversichtlich, dass es so bleiben wird.

Umstrittener Gesetzesentwurf von Jens Spahn

Was mich und viele meiner Kollegen aktuell wirklich aufbringt, ist etwas ganz anderes. Während sich alle auf die Pandemie konzentrieren, hat der Gesundheitsausschuss des Bundestages am Mittwoch über einen umstrittenen Gesetzesentwurf von Gesundheitsminister Jens Spahn beraten.

Die Corona-Warn-App hat die Bundesregierung in dieser Woche herausgebracht.
Die Corona-Warn-App hat die Bundesregierung in dieser Woche herausgebracht.

© imago images/Revierfoto

Demnach soll Intensivpflege zu Hause seltener werden, also beispielsweise für Patienten mit der Nervenkrankheit ALS oder solche, die nach einem Unfall künstlich beatmet werden. Ursprünglich hatte Spahn damit auf kriminelle Machenschaften von Intensivpflegediensten reagieren wollen, die monatlich bis zu 25.000 Euro pro Patient abrechnen können. Anstatt nun die Kontrollen dieser Firmen durch den medizinischen Dienst zu verstetigen, sieht die Gesetzesänderung vor, dass diese Patienten künftig häufiger in Heimen versorgt werden.

Patienten mit mehr Geld könnten zuhause bleiben

Ich finde es krass, dass Krankenkassen – die ja als Träger der Kosten ein Interesse daran haben, diese klein zu halten – entscheiden sollen, wo ein Patient gepflegt wird. In vielen Fällen ist das eigene Zuhause, ist die Familie das Einzige, das der schwerkranke Mensch noch hat. Die Vorstellung, dass künstlich beatmete Kinder aus ihren Familien gerissen werden könnten, ist grauenvoll.

Zudem wird die neue Regelung, wenn sie nach Spahns Vorstellung im Juli verabschiedet wird, bedeuten, dass Patienten mit mehr Geld daheim bleiben können, während andere ins Heim müssen. Beispiele für unser Zwei-Klassen-Gesundheitssystem haben wir doch eigentlich schon genug.

Ricardo Lange, 38, ist Intensivpfleger in Berlin. Hier berichtet er jede Woche von Schichten an der Corona-Front, Provisorien und Hoffnungsschimmern.

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