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Internet und Spätkauf. Diese Kombination ist in Berlin heute deutlich gängiger als das klassische Internetcafé. Hier steht Fatih Ücel vor dem Laden, den er seit wenigen Wochen gemeinsam mit seinem Bruder Selcuk in der Neuköllner Karl-Marx-Straße betreibt.

© David Heerde

Internetcafés in Berlin: T@nte-Emma-LAN

Vor 20 Jahren eröffneten in Deutschland die ersten Internetcafés. Heute, im Zeitalter des Smartphones, braucht sie niemand mehr. Wirklich? Niemand? Eine Bestandsaufnahme in acht Neuköllner Szenen.

(LAN = Local Area Network = Lokales Computernetzwerk. Im Gegensatz zum Wireless LAN sind die Rechner hier mit Kabeln verbunden.)

9 UHR
PROLOG: DER LADEN

Neukölln schläft noch. Nur vereinzelt sind Leute unterwegs. Bringen Flaschen weg. Kaufen neue. Vielleicht liegt es an den Sommerferien. Oder am Sommer selbst: heiß und feucht. Im Altbau lässt es sich eher aushalten als auf der Karl-MarxStraße zwischen Neukölln-Arcaden und Hermannplatz. Dabei hat Fatih Ücel, 25, seit rund zwei Wochen Besitzer von „Internet und Spätkauf“, extra eine mobile Klimaanlage aufgebaut. Doch der Schlauch ist zu kurz, nur die Kunden direkt vor der Theke bekommen etwas kühle Luft. Ücel sitzt hinter der Theke, erträgt die Hitze und schaut über den PC seine Lieblingsserie: Günesi Beklerken. Es geht um Macht, Verrat und Kriminalität. Im Hinterraum stehen neun Desktop-PCs mit Internetzugang auf zehn Quadratmetern. Vorne Spätkauf, hinten Internetbude – das ist heute in Berlin eine gängige Kombination.

Ende der Neunziger eröffneten in jeder deutschen Kleinstadt Cafés, in denen das Surfen im Mittelpunkt stand. Als das erste Internetcafé dieser Art gilt „Falken’s Maze“, das 1994 in Fürth eröffnet wurde. Fünf Jahre später starrte ein schlanker Boris Becker in der Werbung auf einen Röhrenbildschirm und fragte: „Bin ich da schon drin, oder was?“ Ein Internetanschluss war teuer, Flatrates gab es noch nicht, die Verbindungen wurden im Minutentakt abgerechnet. Das konnten oder wollten sich zuerst vor allem Besserverdiener leisten. Damals kam Internetcafés eine gesellschaftliche Funktion zu: Bürger konnten für kleines Geld an Informationen teilhaben. Die ersten Cafés waren Attraktionen. 1998 eröffnete die Firma Cybermind das damals größte Europas in Charlottenburg. Die Zeitschrift „Computerwoche“ schrieb dazu: „Surfer können entweder aus einer Etage, die dem Salon der Titanic nachempfunden wurde, oder einer Etage, die nach Motiven des Fritz-Lang-Films ,Metropolis‘ gestaltet ist, in die Weiten des Cyberspace aufbrechen.“ Heute sitzt man im Hinterzimmer eines Neuköllner Spätkaufs mit kahlen Wänden und zu wenig Platz.

Viele der damals eröffneten Läden sind längst wieder dicht

Laut einer Studie von ARD und ZDF von 2013 sind inzwischen 77,2 Prozent der Erwachsenen ab 14 Jahren in Deutschland online. Die Verbreitung mobiler Endgeräte mit Internet ist in den letzten Jahren rasant angestiegen. Gut 40 Prozent sind in Deutschland auch unterwegs online.

Viele der damals eröffneten Läden haben längst wieder dichtgemacht. Wie viele es waren, wo sie waren, das hat keiner festgehalten, weder die statistischen Ämter von Land und Bund noch der Hotel- und Gaststätten- oder der Einzelhandelsverband. Das liegt auch daran, dass die kommerziellen Internetorte mit ihren stationären Rechnern Hybride sind, nie wirklich Café, aber bis heute, im Hinterzimmer der Spätis, auch kein eigenes „Geschäft“. Über ihr Werden und Vergehen führt niemand Buch, und auch das Netz, das doch angeblich nichts vergisst, gibt über diesen Punkt seiner Geschichte nur spärlich Auskunft. Allein ein Internetcafé in Kassel war zuletzt häufig in den Schlagzeilen. Der Betreiber wurde im Frühjahr 2006 in seinem Laden im Stadtteil Nord-Holland ermordet. So wurde ein Internetcafé zu einem der Synonyme für den Terror des NSU.

Ansonsten ist es hierzulande ruhig geworden um die Cybercafés, wie sie zu Anfang hießen. Und doch gibt es sie noch. Wer aber nutzt hierzulande noch Internetcafés? In einer Zeit, in der so viele mit ihrem Smartphone 24 Stunden online sind?

Fatih Ücel weiß es auch nicht, hat auch deshalb der Recherche in seinem neuen Laden zugestimmt, weil das ja auch für ihn interessant ist. „Die meisten“, sagt er „kommen nur kurz rein, um etwas auszudrucken.“

Bin ich schon drin? Bei den Ücels im Laden gibt es zehn Online-Arbeitsplätze, eine Stunde kostet 60 Cent.
Bin ich schon drin? Bei den Ücels im Laden gibt es zehn Online-Arbeitsplätze, eine Stunde kostet 60 Cent.

© David Heerde

10 UHR
SZENE 1: DER JUNGE

Fatih muss bei seiner Serie auf Pause drücken, so leise redet der türkische Junge, der den Laden betritt. Youness, 14, will ins Internet. Wer ins Internet möchte, sagt vorne an der Theke Bescheid. Fatih Ücel schaltet dann von seinem PC aus einen der neun Rechner im Hinterraum frei. Von da an läuft die Uhr runter. Am Ende bezahlt man vorne. Ücel klickt zwei Mal: „Platz sieben, okay?“ Ja, sagt Youness, geht vorbei an den drei großen Kühlschränken, einem guten Dutzend Bierkästen, vorbei an einem kleinen Waschbecken bis in den hinteren Raum. An jedem Platz ein 15-Zoll-Monitor aus der Übergangszeit zwischen Röhren- und Flachbildschirm, eine Tastatur, Maus und Webcam. Youness sucht nach Videos, gibt „Allah“ ein und drückt auf Enter. Der Fastenmonat Ramadan geht bald zu Ende. Youness klickt auf das Video: „Vertraue auf Allah – eine wahre Geschichte“. Er setzt den Kopfhörer auf. Das blaue T-Shirt spannt über seinem Bauch, das rechte Bein zuckt in der schwarzen Jogginghose. Das Video beginnt mit einem einzelnen Bild, eine Person auf einem Hügel. Dazu wechselnde Texttafeln. Eine Glaubensgeschichte in acht Minuten Powerpoint. Youness liest jedes Wort mit, kaum hörbar, noch leiser als gerade an der Theke: „Das Einzige, was ich brauche“, flüstert er, „ist das Vertrauen zu ALLAH.“ Ein Geräusch, wie man es aus dem christlichen Gottesdienst kennt, wenn Konfirmanden mehr murmelnd denn sprechend das Vaterunser vor sich hertragen.

Youness hat gerade Sommerferien. Bei ihm zu Hause gibt es kein Internet, keinen Computer. Ein Handy besitzt er nicht, geschweige denn ein Smartphone. Die Zehn- und Zwanzig-Cent-Münzen hat er neben der Tastatur aufgestapelt. Zwei Stunden wird er davon surfen können, wenn er sich Wasser und Süßes verkneift.

Zu Hause dürfte er so etwas nicht spielen

Am Ende des Videos neue Vorschläge. Wenn Sie das letzte Video mochten, wie wäre es damit? Youness klickt auf „Mädchen in Libyen rezitiert Quran, während ihr Kugeln entfernt werden“. Das Video zeigt ebendas: Ein Mädchen rezitiert den Koran, während aus ihrem Körper Pistolenkugeln entfernt werden. Youness stöhnt auf, vergräbt sein Gesicht in den kleinen Händen, hat mit so viel Elend auch nicht gerechnet.

Neben ihm kommen und gehen die Ausdrucker. Ein Attest an Platz fünf. Zehn Flyer an Platz drei. Youness ist jetzt auf einer Seite für Browser-Games. Er meldet sich bei Counter-Strike an. Ein Egoshooter. Spiele wie dieses werden eigentlich von der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) auf die Tauglichkeit für Jugendliche getestet. Nur handelt es sich bei diesem Spiel um eines, das man direkt im Browser spielen kann, also weder vollständig herunterladen noch auf einem Datenträger käuflich erwerben muss. So entzieht es sich der USK – und da hier keine Jugendschutzgesetzgebung greift, sind auch die Cafébetreiber nicht genötigt, ihre Kunden zu kontrollieren. Und so sitzt Youness jetzt vor dem Bildschirm und steuert mit den Pfeiltasten des Keyboards seine Figur, von der nicht mehr als eine Pistole zu sehen ist, durch eine Art Industrieanlage. Mit der linken Maustaste feuert er immer wieder die Waffe ab. Zu Hause dürfte er so etwas nicht spielen, selbst wenn es einen Computer gäbe. Hier, an Platz sieben, wird er nicht gestört, Fatih Ücel verkauft vorne im Laden Bier und Zigaretten. Immer wieder springt Youness von seinem Platz auf und geht ein paar Meter, immer dann, wenn er im Spiel gerade getötet wurde. Nach zwei Stunden muss er aufhören, das Taschengeld ist aufgebraucht.

Nächstes Jahr will der Chef schnellere Rechner kaufen

Typische Laden-Aufteilung: Vorne gibt's die Snacks. Und hinten geht’s ins Internet.
Typische Laden-Aufteilung: Vorne gibt's die Snacks. Und hinten geht’s ins Internet.

© David Heerde

12 UHR
ZWISCHENSPIEL: DAS BUSINESS

Der Getränkelieferant bringt Kästen mit Bier und Softdrinks. Fatih Ücel stapelt sie neben der Theke zu Türmen auf, obwohl er einen Keller unter dem Laden hat. „Beim Vorbesitzer wurde ein paar Mal eingebrochen.“ Es ist einer dieser Keller, die von außen zu erreichen sind. Einbrecher könnten so in den Laden gelangen. Nicht aber, wenn acht Bierkisten auf der Luke stehen. Ücel hat noch wenig Erfahrung. Er hat gesehen, dass der Laden läuft, gerade im vorderen Teil. Die Umsätze durch Ausdrucke und Internetnutzung schwanken, belaufen sich durchschnittlich aber auf etwa 60 Euro am Tag. Nächstes Jahr will Ücel die Hardware erneuern. Größere Monitore, schnellere Rechner. Was bleibt, ist die Frage nach der Haftung. Was ist, wenn jemand an einem der PCs illegale Dateien, etwa Kinderpornografie, herunterlädt? Ücel weiß nicht genau, wie es mit der Haftung aussieht, weiß nichts vom Urteil des Landgerichts Hamburg vom 25. November 2010, dem zufolge der Betreiber eines Internetcafés durchaus haften kann, wenn er keine Maßnahmen ergreift, um illegale Downloads seiner Kunden zu verhindern. Das noch von Ücels Vorgänger installierte System beinhaltet jedoch Schutzprogramme, man kann zum Beispiel keine Anwendungen zum sogenannten Filesharing, dem Dateienaustausch innerhalb eines Netzwerks, auf dem Rechner installieren. Fatih Ücel schaut außerdem immer wieder mal in das Hinterzimmer, auch weil ab und an etwas geklaut wird. Erst vor ein paar Tagen wieder fehlte eine Maus an einem der Rechner.

Ücels Vorgänger genießt jetzt seine Rente in der türkischen Heimat. Die PCs hinten waren im Preis mit inbegriffen. Gut 40.000 Euro hat Ücel für alles zusammen bezahlt. 40.000 Euro für den gesamten Bestand, die monatliche Miete kommt obendrauf.

Ücel hat nur einen erweiterten Hauptschulabschluss. Weil er zu selten in der Schule war, sagt er. Gearbeitet hat er immer. Erst in den Gemüseläden der Stadt, später als Fahrer für eine türkische Bäckerei. Er hat gut verdient. Vor acht Monaten konnte er einen Laden für seine Mutter eröffnen. King & Queen, zwei Häuser weiter Richtung Hermannplatz, das Schild „Neueröffnung“ klebt noch am Türrahmen. Ein Brautmodengeschäft, Mutter Ücel ist für ihre Maßanfertigungen bekannt.

13 UHR
SZENE 2: DER BACKPACKER

Sie wollten verreisen, ganz spontan. Timo Linting, 27, und seine Freundin sind von Utrecht aus losgefahren. Das Ziel: Berlin. Die vergangene Nacht haben sie in einem Hostel am Rathaus Neukölln verbracht, Zehn-Bett-Zimmer, 17 Euro die Nacht. „Ein fürchterlicher Ort. Laut, dreckig.“ Und: nur ein internetfähiger Rechner. Ein Smartphone besitzt Linting nicht, seinen Laptop hat er zu Hause gelassen. Das passe nicht zum Rucksackreisen. Jetzt sitzt er da mit einer aufgeschlagenen Berlin-Karte, die zu oft falsch zusammengelegt wurde, starrt auf die Airbnb-Seite, die private Unterkünfte an Leute wie Linting vermittelt. Ein letztes Mal, hier in diesem Internetcafé, über die Tastatur gebeugt, ist er, seinen hiesigen Lebensbedingungen nach, Tourist. Drei Klicks und fünf Stationen mit der U-Bahn, und ihn erwarten hohe Decken eines lichtdurchfluteten Altbaus.

Die Transformation vom Hostel- zum Altbaubewohner dauert keine zehn Minuten und kostet nur 30 Cent. So wie jede angefangene halbe Stunde bei „Spätkauf und Internet“. Linting musste dafür an diesem Tag nur über die Straße gehen, der Späti liegt rund 150 Meter vom Hostel entfernt. „In den Niederlanden“, sagt er, „sind Internetcafés fast ausgestorben.“

15 UHR
SZENE 3: DER FLÜCHTLING

Abdul al Aziz Fyad weiß nicht, wohin mit seinen knapp zwei Metern. Fyad, 28, setzt sich so vorsichtig auf den weißen Plastik-Klappstuhl an Rechner Nummer fünf, als hätte er Angst, ihn zu zerbrechen. Er loggt sich bei Facebook ein, den Oberkörper im gelben Hemd beugt er weit über die Tastatur, seine linke Hand liegt auf seinem Knie, mit der rechten tippt er jeden Buchstaben einzeln ein.

Fyad stammt aus Syrien, in Berlin ist er nur zu Besuch, einen Monat lang. Seine Heimat hat er vor einiger Zeit verlassen, musste sie verlassen. „Der Krieg“, sagt er und will noch etwas hinzufügen. Doch sein Englisch ist schlecht.

Und was gibt es da noch groß zu sagen? Fyad wiederholt die beiden Worte, auf dem Bildschirm blinkt ein Chatfenster. Nach und nach öffnen sich weitere, bis er gleichzeitig mit vier Freunden aus der Heimat chattet. In Syrien hat er als Fotograf gearbeitet, für Zeitungen und Magazine. Jetzt lebt er in Sofia, Bulgarien. Ob er jemals nach Syrien zurückkehren wird, weiß er nicht. Wieder kommen neue Nachrichten. Seine Freunde aus der Heimat schreiben auf Arabisch, Fyad antwortet auf Englisch. In eines der offenen Fenster schreibt er „I miss u“, muss dabei jeden Buchstaben einzeln suchen und tippt ihn vorsichtig mit dem rechten Zeigefinger an. Er ist die Tastatur mit den lateinischen Buchstaben nicht gewohnt. Wieder blinkt eine Nachricht auf, jetzt auf Englisch. „I miss u too“. Gut zwei Stunden wird Fyad nicht von seinem Platz aufstehen. Er hört keine Musik, schaut kein Video, trinkt nichts, isst nichts. Er sitzt in dieser kleinen Parzelle und ringt per Ein-Finger-Suchsystem nach Worten. Den Oberkörper beugt Fyad immer weiter runter. Als wolle er in den Bildschirm eintauchen, um der Heimat etwas näher zu kommen.

Jemand schaut Fußballvideos bei Youtube. Best of Messi 2014

Ich hab’s gefunden. Timo Linting aus Utrecht sucht eine Unterkunft in Berlin.
Ich hab’s gefunden. Timo Linting aus Utrecht sucht eine Unterkunft in Berlin.

© David Heerde

17 UHR
SZENE 4: DIE ZEITTOTSCHLÄGERIN

Für einen Moment ist sie überfordert. Deirdre Tunney steht vorne am Tresen, schaut erst auf die Telefone, dann auf das Getränke-Tabak-Wimmelbild, das sich hinter Fatih Ücel auftut. „Internet, bitte“, sagt sie. Ücel erkennt den englischen Akzent, tippt etwas in seinen Computer, nickt in Richtung des kleinen Durchgangs und sagt: „Number two.“ Kurz darauf sitzt Tunney an einem der Rechner, der Internet-Explorer öffnet sich vor ihr. Sie loggt sich bei Facebook ein, checkt noch mal die Seite vom Klunkerkranich, der Open-Air-Bar auf dem obersten Parkdeck der Neukölln Arcaden.

Deirdre Tunney will dort später zum Konzert. This is the kid und Rozie Plain spielen, Frauen mit Elfenstimmen, dazu Schnurrbärte an den Gitarren. Tunney, 35, ist Musikerin und vor einem Jahr von Irland nach Berlin gezogen. Dass diese Stadt nicht auf eine weitere Musikerin – und sei sie noch so talentiert – gewartet hat, weiß sie. Jetzt hat Tunney nicht einen Job, sie hat drei. Neben der Musik – sie spielt in Kneipen, schön gezupfte Nylongitarrenmusik mit klarer Stimme – unterrichtet sie Kinder. Englisch und Musik. Dazu ist sie Yoga-Lehrerin. In einer Stunde trifft sie sich mit ihren Freunden zum Konzert, und weil sie direkt von der Arbeit gekommen ist und es sich nicht lohnt, noch einmal nach Hause zu fahren, sitzt sie jetzt hier, keine 100 Meter vom Klunkerkranich entfernt.

Das Fatale am Internet – das wissen alle, die täglich am Computer sitzen – ist dieses Zeitloch, in das man fällt, sobald man den Browser öffnet. Und das, obwohl man nur fünf Minuten die Mails checken wollte. Für Deirdre Tunney ist das jetzt genau das Richtige. Zeit totschlagen. 60 Minuten für 60 Cent, günstiger geht’s kaum. Sie schaut sich noch mal die Bands an, die sie heute Abend sehen wird, schreibt eine Mail.

Tunney mag Internetcafés. „Es erinnert mich an eine Zeit, die ich selbst nicht mehr erlebt habe“, sagt sie. An eine Zeit, in der viele Iren noch kein Telefon hatten, Kommunikation noch nicht immer und überall im Vorbeigehen möglich war. Kurz: Es erinnert sie an eine Zeit, in der Leute extra zur Telefonzelle gelaufen sind, die Münzen in den Taschen klimpernd, immer in der Hoffnung, dass der am anderen Ende auch da sei. So wie Tunney jetzt dasitzt, die roten Locken zu einem Wuschel auf ihrem Kopf drapiert, schwarze Spitze lugt aus ihrem türkisfarbenen Oberteil hervor, schafft sie es, diesem kargen Raum so etwas wie Romantik zu verleihen. Sie starrt auf den Bildschirm vor sich, Google zeigt eine neue Mail an. Sie klickt auf „Antworten“, zögert dann einen Moment und tippt mit ihren gepflegten Gitarristinnenfingern auf die Tastatur, die dringend eine Reinigung nötig hätte.

Ruf doch mal an! An den Fernsprechern können Kunden günstig ins Ausland telefonieren.
Ruf doch mal an! An den Fernsprechern können Kunden günstig ins Ausland telefonieren.

© David Heerde

18 UHR
SZENE 5: DIE BEWERBERIN

Auf der Karl-Marx-Straße hasten, schlendern und wanken Nachhausekommer, Spätaufsteher und Voralkoholisierte vorbei. Zwei Studenten aus dem Haus nebenan kaufen im Spätkauf-Internetcafé Club Mate und Tabak ohne Zusatzstoffe. Kurz darauf hievt eine junge Mutter einen Kinderwagen in den Laden, bleibt an der Bussi-Bär-Wassereis-Karton-Pappe hängen, die als Fußmatte dient. Einmal Internet, sagt sie. Als wäre es etwas, das man wie eine Flasche Bier mitnehmen könnte. Ücel schaltet den Rechner an Platz Nummer eins ein. Es ertönt ein Sound, der dem aus der Telekom-Werbung nicht unähnlich ist.

Die Mutter schiebt den Kinderwagen an den Bierkästen vorbei und setzt sich. Sie will sich bewerben. Auf eine Vollzeitstelle als Verkäuferin. Bei Forever 18. Das Kaufhaus in den Neukölln Arcaden wirbt damit, „tolle junge Mode für modebewusste Leute“ zu haben. Das Sommerkleid Angolina bekommt man für zehn Euro.

Die Tochter, zweieinhalb, rebelliert im Kinderwagen und schmeißt ihren Teddy auf den Boden. Die Mutter ungerührt, das dezent geschminkte Gesicht noch so jugendlich, dass sie beim Weinkauf an der Supermarktkasse sicher nach ihrem Ausweis gefragt würde. Auf dem Schild über ihr hat einer mit rotem Filzstift „Rauhen verboten“ geschrieben, jemand anderes hat mit schwarzem Stift ein C ergänzt.

Es ist ein kurzes Anschreiben, knapp zehn Zeilen lang. Sie sei sehr belastbar, steht da, spreche Deutsch und Serbokroatisch fließend. Hinter ihr windet sich das Kind im Wagen. An Platz fünf, drei Rechner von ihr entfernt, schaut jemand Fußballvideos bei Youtube. Best of Messi 2014. Er trägt Kopfhörer, doch die Musik kommt aus den Boxen seines PCs. Er merkt es nicht. Während sich Reggae-Klänge mit dem Surren der Rechner und den Unmutsbekundungen ihres Kindes vermischen, versucht die Mutter, ihre Bewerbung auszudrucken – klappt aber nicht. Fatih Ücel kommt dazu, klickt zwei Mal, und der Drucker am Tresen rumpelt endlich los.

Ücel: „Du solltest die Bewerbung unterschreiben.“

Mutter: „Nein, muss ich nicht. Meinte der Typ vom Jobcenter.“

Ücel: „Ich musste meine Bewerbungen immer unterschreiben.“

Mutter: „Nein, muss man nicht.“

Ücel: „Überleg es dir noch mal.“

Beim Hinausgehen bezahlt sie 40 Cent, zehn für den Ausdruck, 30 für „einmal Internet“. Ihre Bewerbung hat sie nicht unterschrieben. Und der Kinderwagen bleibt schon wieder an der Bussi-Wassereis-Pappe hängen. Es regnet. Fatih Ücel schaut raus auf die Straße. „Die Bewerbung“, sagt er, „kann sie vergessen.“

Wer bekannt ist, darf anschreiben lassen

Was guckst du? Während seiner Schicht schaut Selcuk Ücel an der Kasse türkische Serien.
Was guckst du? Während seiner Schicht schaut Selcuk Ücel an der Kasse türkische Serien.

© David Heerde

18:30 UHR
ZWISCHENSPIEL: DER BRUDER

Wachablösung. Selcuk Ücel, 24, übernimmt jetzt das Geschäft. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder hat er in den Laden investiert. Gerade hat er Semesterferien, sein Studium steht kurz vor dem Ende. Wirtschaft und Politik. Danach will er weg aus Berlin, obwohl er hier geboren ist, in Tempelhof aufgewachsen. Trotzdem will er raus, vielleicht nach Brandenburg. Es ist ihm zu laut in der Stadt, zu voll, zu dreckig. Jetzt aber steht er neben seinem Bruder Fatih vor dem Laden und raucht. Ein älterer Mann mit Plastiktüte geht an ihnen vorbei in den Laden, greift rechts zu einem der zwei Fernsprecher, mit denen man für 35 Cent in der ersten Minute und jeweils 14 Cent pro Minute ab der zweiten in die Türkei telefonieren kann. „Wenn der nicht bezahlen kann“, sagt Fatih zu Selcuk, „ist okay.“ Wer bekannt ist, darf anschreiben lassen. „Bei uns in der Türkei“, sagt Selcuk, „ist das normal. Da wird einmal die Woche bezahlt.“

19:30 UHR
SZENE 6: DER ABEND

Aus dem Grau der Straße betritt Armin, 46, den Laden und bringt etwas Farbe hinein. Um genau zu sein: zehn Farben. Jeder seiner Finger ist mit einer anderen lackiert. Die Jeans zu weit für den dünnen Körper, die Lederjacke passt perfekt. Ücel begrüßt ihn, Stammkunde, man kennt sich. Noch bevor Armin bestellt, greift Ücel hinter sich nach dem blauen Chee-Tah-Tabak. Sonst noch was? „Ein Pilsator und das hier kopieren, bitte.“ Es ist eine DIN-A4-Seite, asiatische Musiker an allerhand Instrumenten. „Ziemlich abgefahren“, sagt er, „so Reißverschluss-Musik. Kann man nicht beschreiben, muss man hören.“ Ab und zu geht Armin – Vorname muss reichen – auch nach hinten an einen der Rechner. Drei Mal im Jahr oder so, sagt er. Das reiche, wofür auch immer. „Internetcafés sind doch super“, sagt er, „muss man den ganzen Scheiß nicht zu Hause haben. Man kommt rein, macht seinen Mist und raus.“ Während er das sagt, weiß man nicht so recht, in welches Auge man blicken soll. Eines ist ein Glasauge, so viel ist sicher. Welches, bleibt ein Rätsel.

22 UHR
SZENE 7: DIE STILLE

Das erste Mal an diesem Tag ist keiner der Rechner im Hinterzimmer belegt. Aus dem Hinterhof durchweht ein leichter Wind die orangefarbenen Lamellen vor dem Fenster. An Platz sieben, wo Youness vor einigen Stunden erst Allah-Videos schaute und später Counter-Strike spielte, hat jemand eine Dose Fanta stehen lassen. Gegenüber hat Deirdre Tunney Zeit totgeschlagen. Nichts zeugt davon, dass sie heute hier war. Rechts neben ihr wurde eine Bewerbung geschrieben, die wohl eher nicht zur Anstellung führen wird. Auf Platz fünf hinten rechts in der Ecke hängt ein weiteres falsch geschriebenes Hinweisschild: „Rahun verboten“. Zwei Stunden lang saß Abdul al Aziz Fyad dort und schrieb gegen das Heimweh an.

Über die Jahre haben sich nicht nur die Internetcafés verändert, auch die Nutzung hat sich gewandelt. Fatih und Selcuk Ücel sind erst seit ein paar Wochen im Geschäft, sie haben keinen Vergleich. Veteranen der Szene sagen, dass vor allem der Touristenfaktor zugenommen hat. Die Zocker, die früher ihre LAN-Partys im Internetcafé gefeiert haben, sind gänzlich verschwunden. An schickeren Standorten ersetzt das Internetcafé mitunter das Büro. Studenten und Kreative fliehen vor der Prokrastination des heimischen Schreibtisches in die Internetcafés der Stadt.

Pornos werden heute nicht geschaut

Aber es ist auch der Ort für diejenigen, die anonym im Internet agieren wollen. So wie Richard, der es, als er am frühen Nachmittag an einem der Rechner saß, schon zu bereuen schien, überhaupt seinen Vornamen genannt zu haben. Mit seinem Cockney-Englisch, dem spärlichen Haupthaar und den schmalen Augen erinnerte er an den Pink-Floyd-Gitarristen David Gilmour. Ständig drehte er sich um und vergewisserte sich, dass ihn niemand beobachtete.

Die einzelnen Plätze sind nur durch eine schmale Trennwand abgegrenzt. Ohne große Anstrengung kann man von überall die anderen Monitore einsehen. Pornos etwa wurden heute nicht geschaut. Das traute sich niemand. „Ich werde keine weiteren Fragen beantworten“, sagte Richard, nachdem er nur die nach seinem Namen beantwortet hatte. Wer weiß, vielleicht ist er ein Informant, ein Whistleblower. In Zeiten flächendeckender Überwachung ist der Gedanke gar nicht so abwegig, wie es im ersten Moment scheint. Erst im vergangenen Jahr erklärte der „Spiegel“ den Lesern, wie man mit sensiblen Informationen an ihn herantreten könne: „Schreiben Sie uns von einem Internetcafé aus über eine eigens eingerichtete E-Mail-Adresse, die keine Rückschlüsse auf Ihren Namen zulässt.“

Den Blog hat er nach sich benannt. Untertitel: Fotos mit Story

Schreib das auf. Der Blogger Tufan Sağlam nutzt das Internetcafé als Dichterklause.
Schreib das auf. Der Blogger Tufan Sağlam nutzt das Internetcafé als Dichterklause.

© David Heerde

23 UHR
SZENE 8: DER DICHTER

Im hinteren Teil des Spätis ist es immer noch ganz ruhig, nur das konstante Grundrauschen der Rechner ist zu hören. Vorne werden Zigaretten und Wegbier geholt. Das alte Punkerpils Sternburg wird dabei am häufigsten gekauft. Dabei ist es mit 80 Cent nicht mal das billigste im Angebot. Pilsator kostet nur 70 Cent für den halben Liter.

Tufan Sağlam mag die Ruhe. Leicht gebückt tritt er durch die Tür, streift seine Schuhe an der Bussi-Bär-Pappe ab und reicht Selcuk Ücel die Hand. Sağlam und die Ücel-Brüder sind zusammen aufgewachsen, haben zusammen das erste Bier getrunken, die ersten Zigaretten geraucht. Sağlam wohnt heute noch in Tempelhof, bei seinen Eltern. Gemeinsam mit den beiden Schwestern in einer Dreizimmerwohnung. Einen PC gibt es, Internet auch. Nur steht der Rechner in dem Zimmer, in dem der Vater schläft, wenn er von der Nachtschicht kommt. „Hier habe ich meine Ruhe, meine Freunde, und ich bekomme mit, wenn was passiert“, sagt er.

In der Nacht des Weltmeistertriumphs der deutschen Fußball-Nationalmannschaft hat er seinen Blog ins Leben gerufen, an dem gleichen Platz, an dem er auch jetzt sitzt. In derselben Nacht, in der die Ücel-Brüder das erste Mal die Türen zu ihrem neuen Laden aufgemacht haben. Sein erster Eintrag: Impressionen von der Fanmeile nach dem Sieg. „Die Deutschland Fahnen (einer schwänkte nackt die Fahne) haben die ganze Fanmeile geschmückt.“ Am Tag nach dem WM-Triumph war er Zeuge eines Motoradunfalls. Mit dem Handy machte er ein Foto und schrieb das Beobachtete als eine Art Erlebnisbericht auf. Ans Ende setzte er einen Aufruf: „Liebe Motorradfahrer, BITTE fahrt vorsichtig, seid nicht überheblich, es kann sehr schlimm (tödlich) enden.“

Den Blog hat er nach sich benannt. Untertitel: Fotos mit Story. Es gibt einige Bilder seiner Heimat, Samsun, am Schwarzen Meer gelegen. Sein Großvater inmitten einer Schafsherde, sein kleiner Cousin, der Fluss, der an der Weide entlangfließt. Unter den Fotos hat er seine Gedanken in einem Gedicht festgehalten:

Die Zeit steht still, der Wind weht schrill.

Auf den Berg will ich gehen,

und die Natur im Einklang erleben.

Dieser Ort gibt mir inneren Frieden,

hier kann ich mich vom Stress verabschieden.

Ich genieß die Natur, denn ich lieb die Kultur.

Sieben Kommentare stehen darunter. „Ne güzel!“, schreibt ein User. Wie schön! Sağlam antwortet: „Çok teşekkür“, vielen Dank.

2 UHR
EPILOG: DIE IDEE

Um zwei Uhr nachts ist Neukölln eingeschlafen. Sağlam ist immer noch da, trinkt einen Schluck Red Bull und erzählt von dem Lyrik-Kurs, den er besucht hat, weil er wissen wollte, wie das geht, seine Gefühle in Worte zu fassen. Er bilde sich gern weiter, sagt er. Auch weil er weiß, dass sein erweiterter Hauptschulabschluss nicht viel wert ist. Eigentlich wäre für ihn in der Schule mehr drin gewesen, mindestens der Mittlere Schulabschluss. „Aber ich hatte zu viele Fehltage“, sagt er, die gleiche Geschichte wie bei Fatih Ücel. Die Ferdinand-Freiligrath-Schule in Kreuzberg war nicht der richtige Ort für einen Typen wie Sağlam. Es gab viel Stress mit den Mitschülern, Schlägereien. Er hat sich gewehrt, hat zurückgeschlagen. Bis er irgendwann keine Lust mehr hatte.

Jetzt macht Sağlam seinen MSA an der Abendschule nach. Danach will er eine Ausbildung machen, zum IT-Systemelektroniker. Und an seinem Blog weiterarbeiten. Nachts, hinten im Laden. Für den nächsten Artikel hat er schon eine Idee. Er will die Geschichte von Fatih Ücel aufschreiben. Der Titel steht schon fest: „Vom Brotauslieferer zum Jungunternehmer“.

Dieser Text ist in unserer Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.

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