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Karin Aust-Dodenhoff (64) studierte in den Sechzigerjahren Rechtswissenschaften an der FU Berlin. Seit 1995 ist die gebürtige Bremerin Präsidentin des Landesarbeitsgerichts. Am 31. März geht Karin Aust-Dodenhoff in Pension.

© Mike Wolff

Interview mit scheidender Gerichtspräsidentin: „Arbeitsrecht ist das pralle Leben“

Die scheidende Gerichtspräsidentin Karin Aust-Dodenhoff über Diskriminierung und Grenzen der Rücksichtnahme auf Religion, über Kündigungen wegen Bagatellvergehen – und über ihre mehr als dreißig Jahre in der Berliner Justiz.

Ein muslimischer Supermarkthelfer muss keine Bierkisten stapeln, sagt das Bundesarbeitsgericht. Müssen die Arbeitgeber hier in Berlin jetzt den Koran studieren, bevor sie Stellen ausschreiben?

Das sicher nicht. Aber es wäre auch unzulässig, Muslime in einer Stellenausschreibung als Bewerber auszuschließen. Das wäre eine Diskriminierung und verstieße gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz.

Finden Sie das richtig?

Ja, das Gesetz ist grundsätzlich gut, hat aber nicht so viel bewirkt, wie man allgemein denkt. Es hat sich aber etwas in den Köpfen bewegt, auch wenn immer noch diskriminiert wird. Ein Gesetz ist nicht alles, aber es kann helfen.

Geht die Toleranz manchmal zu weit?

Es wird Grenzen der Rücksichtnahme geben. Es kommt immer auf die vertraglich konkret geschuldete Tätigkeit an. Typisch ist der Kopftuchfall. Im staatlichen Bereich, in den Schulen ist für eine Lehrkraft das Tragen eines Kopftuches sehr problematisch. In einem Supermarkt könnte eine Kündigung aber wohl kaum mit Erfolg darauf gestützt werden. Bei einem Tschador oder einer Burka wäre das etwas anderes.

Der Mann sollte den Alkohol nicht trinken, er sollte ihn doch nur sortieren?

Ich sehe da auch einen Unterschied. Wenn ich mich als Lagerarbeiter verdinge, kann ich später nicht sagen, ich spare aus Glaubensgründen alkoholische Produkte aus. Es gilt der Vertrag. Für mich wäre das ein Fall, wo die Rücksicht auf die Religion ihre Grenzen hätte. Insoweit bin ich möglicherweise anderer Auffassung als das Bundesarbeitsgericht. Nur, jeder Fall ist ein Einzelfall, der aufgrund der besonderen Umstände anders – auch innerhalb der Gerichtsinstanzen – beurteilt werden kann. In der Öffentlichkeit wird das oft verkannt.

Nimmt der Streit um Religion zu?

Nein, ich erinnere mich bei uns nur an einen Kopftuchfall. Das ist Jahre her. Es ging um eine Mitarbeiterin im Zimmerservice eines Hotels. Sie durfte mit Kopftuch weiterarbeiten. Diskriminierungsfälle sind, anders als oft dargestellt, vor Gericht eine Ausnahme. Wir hatte am Arbeitsgericht im vergangenen Jahr 21 000 Eingänge. In weniger als einem Prozent davon ging es um Diskriminierung. Streit wegen Benachteiligung aus Gründen der Religion tendiert gegen null.

Sie waren mehr als dreißig Jahre hier am Gericht. Was hat sich verändert?

Arbeitsrecht ist das pralle Leben. Jede Veränderung in der Wirtschaft spiegelt sich in unseren Fällen. So könnte es im Hinblick auf den Bahnstreik bald Streitigkeiten vor Gericht geben. Auch Leiharbeit, Schwarzarbeit und Lohndumping beschäftigen die Arbeitsgerichte. Bei Letzterem ist zu entscheiden, welcher Lohn angemessen wäre.

Ist es schwieriger geworden?

Ja. Früher war bei einer betriebsbedingten Kündigung, nur das Vorliegen von betrieblichen Gründen und vielleicht die Sozialauswahl streitig. Heute stellt sich zusätzlich oft die Frage, ob ein Betriebsübergang, eine Betriebsspaltung oder ein Gemeinschaftsbetrieb vorliegt. Die Fälle sind viel komplizierter geworden. Auch, weil das Europarecht immer mehr Einfluss nimmt. Bei fast allen Entscheidungen spielt heute das Europarecht eine Rolle.

Überfordert das die Richter?

Nein, aber es ist schon eine große Beanspruchung und es gibt wenig Routine. Die Richter müssen interessiert sein und auf dem Laufenden bleiben. Arbeitsrichter, das ist meine Erfahrung, sind unglaublich motiviert. Wir haben viele Kontakte in die Berliner Wirtschaft, zu Betriebsräten und Personalleitern. Die Entscheidungen erfordern neben Rechtsverstand auch viel Verständnis für die wirtschaftlichen Zusammenhänge. Es gibt in Berlin die Besonderheit von sogenannten Fachkammern. Diese sind mit ehrenamtlichen Richtern aus den jeweils einschlägigen Branchen besetzt. Dieser Einblick in die Praxis ist ein Riesenvorteil.

Trotzdem hat Ihr Gericht wieder eine Kündigung bestätigt, bei der es um Pfandbons und Kleinbeträge ging. Haben Berliner Richter nichts aus dem „Emmely“-Urteil des Bundesarbeitsgerichts gelernt, wonach eine Kassiererin nicht gleich gekündigt werden darf, wenn sie sich nach Jahrzehnten im Betrieb eine Bagatelle zuschulden kommen lässt?

Das war ein vollkommen anderer Fall. Hier hatte der Mitarbeiter die Pfandbons selbst hergestellt. Dahinter steckt eine ganz andere kriminelle Energie. Strafbare Handlungen sind im übrigen grundsätzlich ein Kündigungsgrund. Auf den Wert der Dinge kann es dabei nicht ankommen.

Wird mit dem „Emmely“-Urteil Kleinkriminalität in Betrieben freigesprochen?

Nein. Der Fall „Emmely“ ist damals vor dem Hintergrund der Finanzkrise und der Diskussion um Managerboni sehr aufgebauscht worden. Das Bundesarbeitsgericht hat aber auch klargestellt, dass selbst Kleindelikte eine Kündigung rechtfertigen. Es hat dann, vor dem Hintergrund der langjährigen Beschäftigung, nur eine andere Interessenabwägung vorgenommen als das Landesarbeitsgericht.

Sehen Sie an Ihren Fällen Gründe für eine Frauenquote in Betrieben?

Die Quotendiskussion gibt es schon sehr lange. Immer noch werden Frauen, jedenfalls in Führungspositionen, benachteiligt. Eine Quotenregelung ist wichtig. Sie gibt es im öffentlichen Dienst fast überall. Es handelt sich aber meist um eine relative Quote: Vorzug der Frau bei gleicher Qualifikation. Ich hätte auch mit einer gesetzlichen Quote selbst in der Privatwirtschaft kein Problem, in Norwegen funktioniert das. Ich halte die Einführung nur für wenig realistisch. Wichtig ist aber, dass ein Umdenken einsetzt. Die neue Quotendiskussion könnte dies anstoßen. Einige Unternehmen merken schon, dass sie mit einer Quotenregelung ihr Image fördern können.

Führen Frauen besser?

Sie sind zum großen Teil besser qualifiziert. Es machen mehr Frauen Abitur und sie haben oft die besseren Noten. Frauen haben zudem sehr viel soziale Kompetenz. Sie könnten den Tonfall und den Umgang in Führungsetagen positiv verändern. Frauen müssen aber noch viel kämpfen. Eine Frau, die sich zeitweise lieber um Familie und Kinder kümmert, soll dies tun können. Aber wenn sie wieder zurück in den Job will, muss ihr das ermöglicht werden. Hier ist Frauenförderung besonders wichtig.

Das Gespräch führten Stephan-Andreas Casdorff und Jost Müller-Neuhof.

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