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Interview mit SPD-Fraktionschef: „Berlin soll bei Integration zum Vorbild werden“

Der neue SPD-Fraktionschef Raed Saleh will junge Migranten ermutigen, ihr Potenzial stärker in der Stadt einzubringen und in der rot-schwarzen Koalition das linke Profil der Sozialdemokraten schärfen.

Herr Saleh, wie ist das für einen ausgewiesenen SPD-Linken, ein Regierungsbündnis mit der CDU managen zu müssen? Haben Sie ein ungutes Gefühl?

Nein. Die SPD ist und bleibt auch bei Rot-Schwarz die linke Volkspartei. Es wird den Grünen, Linken und Piraten in der Opposition auch nicht gelingen, uns links zu überholen. Die SPD steht wie keine andere Partei für soziale Gerechtigkeit, Weltoffenheit und die Unterstützung von Menschen, die nicht allein den Aufstieg schaffen. Das ist links.

Was wollen Sie als neuer SPD-Fraktionschef anders machen als Ihr Vorgänger Michael Müller, der zehn Jahre im Amt war?

Ich kann an die gute Arbeit der letzten Jahre anknüpfen, aber jeder hat seinen eigenen Stil. Für mich ist der intensive Dialog mit den Bürgern wichtig. So habe ich mir vorgenommen, alle 78 Wahlkreise zu besuchen, in die Kieze zu schauen, wo man nicht jeden Tag ist. Wir müssen immer wieder überprüfen: Braucht die Stadt das, was wir gerade tun?

Wie ist Ihr Verhältnis zu Klaus Wowereit, der sich mit dem engen Freund Müller als Fraktionschef quasi blind verstanden hat?

Natürlich lässt sich das enge, über Jahrzehnte gewachsene Verhältnis zwischen Wowereit und Müller, die beide aus Tempelhof kommen, nicht einfach auf die neue Situation übertragen. Aber Wowereit und ich arbeiten vertrauensvoll, offen und ergebnisorientiert zusammen.

Verstehen Sie sich auch als Vorwarnstation für Wowereit, damit er die Stimmung in der Stadt und in der Fraktion besser einschätzen kann?

Der Regierende Bürgermeister hat selbst einen sehr guten Riecher für die Stadt und eine enge Tuchfühlung zu den Menschen. Er ist viel unterwegs und kennt die Stadt wie kein anderer. Da muss ich ihn nicht belehren.

Bei welchen Themen erwarten Sie Probleme zwischen SPD und CDU?

In jeder Koalition gibt es irgendwann Reibungspunkte. Wenn es zu Konflikten kommen sollte, werden wir diese, wie es sich gehört, in enger Kooperation intern lösen. Deswegen ist es gut, dass ich zum CDU-Fraktionsvorsitzenden Florian Graf ein gutes Vertrauensverhältnis habe. Das gilt insgesamt auch für beide Regierungsfraktionen.

Mal ehrlich: Sie bedauern trotzdem das Scheitern von Rot-Grün?

Für mich war immer eine stabile Koalition wichtig. Die Grünen müssen sich jetzt erst einmal sortieren. Nach den guten Koalitionsverhandlungen mit der Union stehe ich zur rot-schwarzen Koalition und freue mich auf die gemeinsame Regierungsarbeit.

Rot-Schwarz hat mit der Entlassung des Justizsenators einen glatten Fehlstart hingelegt. Wie wollen Sie diesen schlechten Eindruck wieder wettmachen?

Wir konzentrieren uns auf das Wesentliche, und das ist die Arbeit für die Stadt.

Womit will sich die SPD ab Januar 2012 profilieren?

SPD und CDU werden gemeinsam den Koalitionsvertrag umsetzen, aber mir geht es darum, gerade in einer rot-schwarzen Koalition so viele sozialdemokratische Positionen wie möglich durchzusetzen. Als größte Regierungspartei haben wir den Führungsanspruch.

Was heißt das konkret?

In der Jahresklausur im Januar wird die SPD-Fraktion die künftige Wirtschafts- und Haushaltspolitik diskutieren. In Zeiten knapper Kassen dürfen wir nicht in alte Gewohnheiten verfallen und Probleme dadurch lösen, dass man viel Geld ausgibt. Die Koalition will bis Mitte Juni 2012 den ersten gemeinsamen Haushalt aufstellen, und darin werden wir unsere Prioritäten deutlich machen. Für mich hat die soziale Gerechtigkeit Vorrang, und eine bessere Ausstattung der Bezirke.

Noch einmal: Was bietet die neue Regierung den Berlinern zu Beginn des neuen Jahres konkret an?

Ein weiteres Thema wird sein, den Einfluss der öffentlichen Hand auf landeseigene Unternehmen zu stärken. Auch die bedarfsgerechte Ausstattung der Kitas wird eine Rolle spielen.

Freuen Sie sich, dass im Frühjahr 2012 endlich die Bagger rollen für die Verlängerung der Autobahn A 100?

Die A100 wurde in der SPD lange diskutiert und anschließend mehrheitlich befürwortet. Als Demokrat stehe ich jetzt zu dieser Entscheidung.

Im Wahlkampf kündigte Wowereit an, dass die Wirtschaftspolitik im Zentrum der künftigen Regierungsarbeit stehen soll. Nun hat die CDU das Ressort übernommen. War das eine Panne?

Die SPD hätte gern alle Senatsressorts gehabt, aber das geht nun mal nicht. Trotzdem steht die Wirtschaftspolitik für uns oben auf der Agenda. Das ändert nichts daran, dass jeder Mensch gleich viel wert ist, unabhängig von seinem wirtschaftlichen Nutzen. Von diesem sozialdemokratischen Grundsatz leitet sich alles andere ab, deshalb bin ich einst in die SPD eingetreten.

Sie sind in Berlin der erste SPD-Fraktionschef mit ausländischen Wurzeln. Ist das ein Vor- oder Nachteil?

In erster Linie bin ich Sozialdemokrat und Berliner – und nicht Migrant. Die SPD war immer stark darin, Chancengleichheit herzustellen: Für Arbeiterkinder, für Frauen, auch für Migranten. Das ist Integration – die gleichberechtigte Teilhabe als Normalität. Zu dieser Normalität gehört es auch, dass Jugendliche auf die Frage nach ihrer Herkunft nicht sagen, ich komme aus Istanbul, sondern: Ich komme aus Spandau oder Marzahn oder aus Mitte.

Würden Sie sagen: Dass mit Ihnen und der Arbeitssenatorin Dilek Kolat zwei Berliner mit Migrationserfahrung herausgehobene Positionen einnehmen, ist eine Ermutigung für junge Menschen? Integration zahlt sich aus?

Ich hoffe, dass dies viele junge Menschen ermutigt, ihren Weg zu finden. In Berlin hat sich viel getan, was die Integration betrifft, aber wir sind noch nicht am Ziel. Wir haben ein riesiges Potenzial junger Leute, mit verschiedenen Lebensweisen und Talenten, das brach liegt. Wir wollen Berlin zu einer Vorbild-Metropole machen für andere Städte in Europa.

Sie haben sich vergeblich engagiert für einen Parteiausschluss von Thilo Sarrazin.

Zu Sarrazin möchte ich mich nicht mehr äußern. Das Kapitel ist für mich beendet.

Was ist Ihr ganz persönliches Anliegen, was treibt Sie an?

Demokratie ist für mich das höchste Gut, dafür mache ich mich stark. Wir erleben den Aufbruch in der arabischen Welt, den blutigen Kampf für mehr demokratische Rechte. In Deutschland, auch in Berlin, äußern sich dagegen immer mehr Menschen – leider auch viele junge – sehr kritisch bis feindlich über die Demokratie. Das macht mir Sorgen. Wir dürfen diese Menschen nicht verlieren und müssen vor allem an den Schulen klarmachen, dass unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht selbstverständlich ist und dass wir sorgfältig damit umgehen müssen. Das ist ein Problem, das offensiv diskutiert werden muss.

Das Gespräch führten Gerd Nowakowski und Ulrich Zawatka-Gerlach.

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