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Drogenrazzia. Über zehn Mal wurde ein elfjähriger Dealer bei solch einer Aktion festgenommen.

© Heinrich

Interview: "Nicht warten bis zur zehnten Festnahme"

Was tun mit kriminellen Kindern? Mehr Ämter-Kooperation, weniger Datenschutz, früher aus Familen holen, sagt Polizeichef Dieter Glietsch im Interview.

Dealende Kinder narren über Wochen die Polizei. Sind Sie unfähig, mit denen fertig zu werden?

Im Gegenteil: Dass die Kinder wiederholt festgenommen werden, zeigt ja, dass wir uns intensiv um den Rauschgifthandel kümmern – und zwar seit Jahren. Deshalb fallen uns diese Kinder auf. Das tun sie übrigens seit Jahren. Es sind immer nur wenige Kinder, und es sind nicht immer dieselben.

Andererseits muss doch etwas im Argen liegen, wenn Ihre Beamten die Kinder quasi täglich aufsammeln.

Die Mitarbeiter leiden darunter, dass sie die Kinder immer wieder beim Dealen festnehmen, weil die vorhandenen Instrumente nicht genutzt werden. Wir müssten diese Kinder einer Einrichtung übergeben können, aus der sie nicht nach einer Stunde wieder verschwinden können …

… also in ein geschlossenes Heim?

Wir sollten nicht zurückfallen in pädagogische Konzepte, die schon in den 70er Jahren gescheitert sind. Es geht um die sichere Verwahrung für einen Tag oder für zwei Tage, bis die Kinder einen Platz in Einrichtungen wie denen des EJF Lazarus in Brandenburg bekommen können. Diese Einrichtungen arbeiten seit Jahren sehr erfolgreich. Aber sie leben auch davon, dass sie sich an abgelegenen Orten befinden – und eben nicht mitten in der Großstadt, wo man tatsächlich nur durch Mauern und Gitter die Kinder an ihrer Rückkehr in die Kriminalität hindern könnte.

Warum gibt es immer noch keine solche Einrichtung?

Das weiß ich nicht. Ich kann das ja nicht selbst veranlassen.

Ist der elfjährige Dealer ein Einzelfall?

Er ist einer von wenigen: In den Jahren 2008 bis 2010 hatten wir insgesamt 106 Drogendelikte von Kindern. In 66 Fällen ging es dabei um den Besitz geringer Mengen, in 38 um den Handel, also Dealer, und in zwei Fällen um den Anbau von Drogen.

Werden die Kinder aus dem Libanon eingeschleust, um mit Drogen zu handeln?

Es gibt Einzelfälle, in denen entfernte Angehörige von hier lebenden Familien nachgezogen werden. Von den 106 erwähnten Taten waren in 54 Fällen die Täter deutsche Kinder, die auch deutsche Eltern hatten. In 16 Fällen waren die Täter hier geboren, hatten aber Migrationshintergrund. 23 weitere Taten wurden von libanesischen Kindern begangen, und zwölf von Tätern aus anderen Ländern. Übrigens: Die 23 Taten der Libanesen, die die Medien zurzeit besonders interessieren, wurden von neun verschiedenen Kindern begangen.

Dringen Sie überhaupt in die Clanstrukturen vor, die hinter diesen Tätern stecken?

Das zeigt doch die Vielzahl der Verfahren gegen Täter aus arabischen Großfamilien. Wären diese Clans so abgeschottet gegen staatliche Kontrolle, wie manchmal getan wird, gäbe es doch nicht hundert Ermittlungsverfahren gegen manche Angehörige. Nicht wenige sitzen in Untersuchungs- oder Strafhaft. Es mag schwieriger sein, in diese Strukturen vorzudringen, aber es gelingt uns offenkundig.

Die Stadt ist also nicht der Hand dieser Großfamilien?

Diese Vorstellung ist abwegig. Es gibt libanesisch-kurdische Familien mit überdurchschnittlich vielen Mitgliedern, die Straftaten begehen. Aber auffällig sind nur sechs von mehr als 20 Großfamilien.

Dieter Glietsch
Dieter Glietsch

© Rückeis

Müssten die Ämter mehr Kinder aus diesen Familien herausnehmen?

Möglicherweise. Ob die Jugendämter ihre Möglichkeiten immer voll ausschöpfen, kann ich nicht beurteilen. Die Instrumente sind jedenfalls vorhanden. Man muss auch nicht warten, bis diese Kinder das zehnte Mal wegen Drogenhandels festgenommen worden sind.

Jugendrichterin Kirsten Heisig beschreibt in ihrem Buch Mängel bei der Zusammenarbeit der Ämter. Sehen Sie die auch?

Bei der Zusammenarbeit der Behörden in Prävention und Strafverfolgung haben wir in den vergangenen zehn Jahren Riesenfortschritte gemacht. Aber mehr geht immer – auch bei der Kooperation zwischen Jugendämtern, Schulen und Polizei. Die Bereitschaft von Jugendamtsmitarbeitern, frühzeitig mit der Polizei zusammenzuarbeiten, könnte durchaus noch wachsen.

Ist der Datenschutz ein Hinderungsgrund?

Eine enge Auslegung des Datenschutzes ist kontraproduktiv. Es gibt immer Ermessensspielräume. Der Datenschutzbeauftragte neigt berufsbedingt dazu, den Datenschutz eng auszulegen. Aber die Behörden sind nicht gezwungen, dieser engen Auslegung zu folgen. Nur leider tun sie es teilweise und erschweren damit den Austausch von Informationen.

Sollte das Alter für die Strafmündigkeit von 14 auf zwölf Jahre gesenkt werden?

Keinesfalls. Eine Erziehungseinrichtung mit hochwertigem Konzept nützt diesen Kindern ganz bestimmt mehr als die Jugendstrafanstalt.

Nimmt die Jugendkriminalität zu?

Nein. Beim für die Bevölkerung besonders wichtigen Thema Jugendgewalt haben wir in Berlin binnen zehn Jahren einen Rückgang von fünf Prozent erreicht. Das ist vielleicht nicht berauschend, zumal Berlin stets auf relativ hohem Niveau lag. Aber bundesweit ist die Zahl der Tatverdächtigen in demselben Zeitraum um 16 Prozent gestiegen.

Nach Frau Heisigs Erfahrung stammen die Täter ganz überwiegend aus Migrantenfamilien, speziell aus arabischstämmigen.

Die Zahlen, die Frau Heisig nennt, sind von ihrer Arbeit im Brennpunkt Nord-Neukölln geprägt. Dort ist der Anteil von Migranten, von sozial Benachteiligten und von schlecht Integrierten weit höher als im stadtweiten Schnitt. Deshalb dürfen die Zahlen auch nicht verallgemeinert werden. Bei der Gewaltkriminalität sind junge Männer aus arabischen Familien tatsächlich auffällig stark vertreten.

In Frau Heisigs Buch heißt es, dass sich Amtsmitarbeiter bei diesen Familien aus Angst vor Morddrohungen zurückhalten.

So gesehen gibt es auch ständig Morddrohungen gegen Polizeibeamte. Wenn ein junger Krimineller bei der Festnahme zum Polizisten sagt: ‚Ich stech dich ab!’, kann man das natürlich als Morddrohung werten. Ich würde es auch nicht einfach wegwischen. Aber Anzeigen, die sich auf eine ernst zu nehmende Morddrohung in diesem Bereich beziehen, sind eine extreme Seltenheit. Ich kenne keinen Beleg dafür, dass Jugendamtsmitarbeiter ihr Leben riskieren, wenn sie ihre Mittel nutzen, um Kinder vor kriminellen Karrieren zu bewahren. Wir mussten wegen so etwas auch noch nie Personenschutz leisten. Das gilt auch für unsere Ermittler, die konsequent gegen solche Jugendlichen vorgehen.

Die Ermittlungsgruppe „Ident“, die die falschen Identitäten vieler Krimineller aufgedeckt hat, existiert seit 2008 nicht mehr. Braucht Berlin sie jetzt wieder?

Damals ging es gezielt um die Identität von Straftätern aus bestimmten libanesisch-kurdischen Großfamilien, die im Verdacht standen, sich durch falsche Angaben die deutsche Staatsangehörigkeit erschlichen zu haben. Dabei ging es auch um Intensivtäter, die dann abgeschoben werden konnten. Insgesamt wurden fast 50 Personen abgeschoben, und ebenso viele sind freiwillig ausgereist. Uns als Polizei interessieren in erster Linie die Kriminellen. Die Kollegen des Landeskriminalamtes aus der Ermittlungsgruppe „Ident“ sind auch heute noch mit der Identitätsfeststellung von Straftätern befasst.

Sind weitere Abschiebungen zu erwarten?

Kaum. Oft hat das Herkunftsland diesen Personen die Staatsangehörigkeit entzogen, zum Teil sind sie aufgrund falscher Angaben dort für tot erklärt worden. Wenn die Herkunftsländer diese Leute nicht zurücknehmen, werden wir sie hier auch nicht los.

Das Gespräch führten Stefan Jacobs und Gerd Nowakowski

Dieter Glietsch (63, SPD) ist seit 2002 Polizeipräsident. Er hat durch Transparenz bei Fehlern von Beamten, viel Prävention, sowie Deeskalation am 1. Mai das Bild der Polizei positiv verändert.

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