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In die Kiemen gelegt. Jedes Jahr ist Zählappell im Zoo-Aquarium. Da die Tiere eher selten strammstehen, haben die Menschen gewisse Tricks auf Lager.

© Kai-Uwe Heinrich

Inventur bei Fischen, Insekten und Reptilien: Jetzt wird tierisch nachgezählt im Berliner Zoo

Zum Jahresbesginn wird Inventur gemacht – auch im Zoo. Die Fragestellung ist dieselbe wie in jedem Laden. Allerdings zeigt sich das Inventar weitaus mobiler.

Hartmut ist der Beste. Marco Hasselmann muss nicht mal stehen bleiben, um ihn zu zählen. Denn Hartmut ist bestimmt 70 Zentimeter lang, der einzige Zackenbarsch im Zoo-Aquarium, und außerdem guckt er neugierig aus seinem hellen Becken durch die Scheibe, vor der gerade ein Kind herumturnt. „Wir haben ja auch Tiere, die morgens Migräne haben oder so und hinter irgendeiner Pflanze sitzen“, sagt Hasselmann, Reviertierpfleger Süßwasser, Herr über, äh … – tja; das ist jedes Mal die Frage, wenn ein neues Jahr beginnt und die Inventur ansteht.

Seit dem 19. Jahrhundert sind Geschäftsleute zur jährlichen Bestandsaufnahme verpflichtet. Inventur kommt von invenire, Lateinisch für „auf etwas oder jemanden stoßen“. Das passt im Zoo besonders gut, aber dazu später. Hasselmann muss sich jetzt auf die Schilfsalmler konzentrieren, die mit den Blutsalmlern in einem dicht bepflanzten Becken leben; klein von Wuchs, groß an der Zahl.

Von Axolotl bis zur Zebramanguste

Insgesamt 28 460 Tiere aus 2153 Arten meldete die Verwaltung vor einem Jahr, also Anfang März 2017, als alle Bewohner von Tierpark, Zoo und Aquarium, vom Axolotl bis zur Zebramanguste, erfasst waren. Wobei zur ganzen Wahrheit gehört, das allein der Ameisenstaat zwei Etagen über Hartmut und den Salmlern mindestens zehntausend Einwohner haben dürfte. In Ameisenstaaten gilt ja ganz besonders das Ludwig XIV. zugeschriebene Motto: L’État c’est moi.

Hasselmann zählt die Fische, wie auch ein Laie sie zählen würde, also ohne gedankliche Raster oder Gruppen und sonstige Tricks. Er, der Zimmermann gelernt und vor Jahrzehnten bei einem Aquaristikhandel gejobbt hat, weiß im Gegensatz zum Laien, dass man die Größe von Schwärmen auf den ersten Blick meist weit unterschätzt. 80 Blut- und 30 Schilfsalmler stehen nun auf dem Zettel, den er später in seinem Büro mit Blick in den Zoo abtippen wird. Es könnten auch 78 und 32 sein. „Wenn wir während des Jahres mal ein Becken leer machen und alle Fische herausholen, ist oft überraschend, wie exakt wir beim Zählen waren.“

Hilfe vom Kollegen

Rund 350 Arten leben in Hasselmanns Obhut. Als Chef kennt er zwar alle, aber für die Inventur braucht er seine Kollegen: Erstens, weil in unübersichtlichem Terrain lieber mehrere Leute zählen und anschließend der Durchschnitt gebildet wird. Zweitens, weil er beispielsweise nicht jeden halb versteckten Wels nur an der Schwanzflosse erkennt, der einschlägig spezialisierte Kollege aber sehr wohl. Und drittens, weil manche sich nur zeigen, wenn sie gefüttert werden.

Alles wird no-tier-t. Was Reviertierpfleger Marco Hasselmann gezählt hat, überträgt er anschließend auf Formulare zum Abheften. „Zugang“ und „Abgang“ steht auf denen.
Alles wird no-tier-t. Was Reviertierpfleger Marco Hasselmann gezählt hat, überträgt er anschließend auf Formulare zum Abheften. „Zugang“ und „Abgang“ steht auf denen.

© Kai-Uwe Heinrich

Das mit dem Futter ist überhaupt so eine Sache im Aquarium: Wer beispielsweise bei den Piranhas im Landschaftsbecken Nr. 3 lebt, sollte nicht allzu offensichtlich schwächeln, um den nächsten Tag noch zu erleben. Auch von manchem siechen Kleinfisch bleibt oft nichts übrig als ein paar satte Garnelen am Grund. Schwund ist immer, obwohl sich der Zoo von der Natur ja auch dadurch entscheidet, dass den meisten Tieren die Feinde vom Leib gehalten werden. Oder nehmen wir die Guppys, sagt Hasselmann: Die reproduzieren sich so schnell, dass der Bestand von Woche zu Woche schwankt.

Wie die Waschbären

Auch deshalb wird nicht nur zum Jahreswechsel gezählt, sondern immer, wenn ohnehin das Wasser abgelassen werden muss. Und es gibt keineswegs nur negative Inventurdifferenzen: „Beim Ablassen sind wir wie die Waschbären unterwegs und wühlen mit den Fingern im Sand“, sagt Hasselmann. „Manchmal taucht ein Fisch auf, von dem wir gar nicht mehr wussten, dass wir ihn haben.“ Der kommt dann in die Rubrik „wiedergefunden“. Doch nicht jeder positive Saldo ist erfreulich: In den offen zugänglichen Becken der Kois und Goldfische „hatten wir schon immer mal einen kleinen Buntbarsch oder Wels dabei“. Blinde Passagiere, die von Privatleuten eingeschmuggelt wurden, auf dass sie es hier gut haben sollen. Aber womöglich Krankheiten einschleppen. Oder als invasive Arten gelten wie Sumpfschildkröten und Amerikanische Flusskrebse, die gerade als „Tiergarten-Hummer“ Karriere machen.

Der seltenste Süßwasserfisch der Welt

Irgendwo im System seien auch die finanziellen Werte der Tiere hinterlegt, sagt Hasselmann, aber die seien für seine Leute irrelevant. Die wertvollsten Fische sind ohnehin nicht die teuersten: „Wir haben den seltensten Süßwasserfisch der Welt hier“, sagt der Revierleiter: ein kleiner grauer Kärpfling, der als ausgestorben galt, bis er in einem Bergsee in Mexiko wiedergefunden wurde. Die 40 Tiere im Berliner Aquarienkeller entsprächen knapp einem Viertel des weltweiten Bestandes. „Ein kleiner grauer Fisch, an dem jeder im Aquarienladen vorbeigehen würde.“ Solche Raritäten werden quartalsweise gezählt. Andere seltene Arten werden außerdem nach Geschlecht erfasst, um den internationalen Austausch über Artenschutzprogramme zu erleichtern. Bei den Säugetieren, in deren Reich Hasselmann aus seinem Fenster blickt, fällt der Überblick meist leichter – zumal viele einen Chip haben, der sich elektronisch auslesen lässt.

Schwarm drüber. Große Fischgruppen werden nur geschätzt.
Schwarm drüber. Große Fischgruppen werden nur geschätzt.

© Kai-Uwe Heinrich

Im Aquarium haben sie auch auch den weltweiten Publikumsliebling der Hobbyzüchter: Neonsalmler. Die kosten im Großhandel nur 30 Cent, sagt Hasselmann. Finanziell käme es also nicht darauf an. Aber so seien die Pfleger nicht, „das sind alles Freaks“, sagt Hasselmann.

Spiderman bei den Spinnen

Der Beweis ist im zweiten Obergeschoss zu sehen, wo Reviertierpfleger Robert Seuntjens die „Nur für Personal“- Tür der Amphibien- und Insektenabteilung öffnet. An einem Terrarium beschäftigen sich zwei Pfleger mit einer knapp halbmeterlangen Echse wie mit einem Haustier. Die warme Luft ist muffig, eine Tür trennt den Spinnenraum ab. Die Freaks haben ein Spiderman-Plakat an die Wand gehängt. Seuntjens lässt die Spinnen links liegen und greift in ein Terrarium mit morschen Aststücken. Darunter liegen Tausendfüßler, teilweise ins Substrat eingegraben. Die zählt man sinnvollerweise nicht zum Jahreswechsel, sondern bei der Reinigung.

In Warzestellung. Kröten sind dankbare Zählobjekte.
In Warzestellung. Kröten sind dankbare Zählobjekte.

© Kai-Uwe Heinrich

Wann Kröten was zu schlucken kriegen

Durch eine weitere Tür geht es zurück in den öffentlichen Teil, wo hinter Glas sechs handgroße, dicke Aga-Kröten sitzen. Sie sind nur scheinbar leicht zu zählen: Seuntjens weiß, dass es zehn Exemplare sind. Aber sie werden nur montags und donnerstags gefüttert, weshalb sie an diesem Freitag keine Veranlassung haben, sich zu zeigen. Die Tiere wissen das, sagt Seuntjens, der jetzt eine daumenlange und -dicke Riesenfauchschabe auf die Hand nimmt. Sie faucht. Gezählt wird auch hier nur die Population, nicht das einzelne Exemplar. Nebenan bearbeiten die Blattschneideameisen einen Brombeerzweig, tragen die grünen Schnipsel in ein System aus gläsernen Röhren. Der bevölkerungsreichste Staat im Zoo.

Wenn es ganz still ist in der oberen Etage, hört man sogar die Heimchen zirpen. Es gibt viele davon im Zoo-Aquarium. Wie viele? Wird nicht gezählt. Ist nämlich nur Futter.

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