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Berlin: Irma Großmann (Geb. 1914)

„Wenn er sich so gut an mich erinnert, muss ich einiges richtig gemacht haben“

Zu ihrem hundertsten Geburtstag besuchte sie Klaus Wowereit. Er setzte sich zu ihr auf die grüne Couch im Wohnzimmer, sie plauderten. Es war ja nicht ihre erste Begegnung. Irma Großmann hatte Klaus in der Schule Englisch beigebracht. Nach eineinhalb Stunden ging er wieder, und Irma Großmann sagte zu ihrer Nachbarin und besten Freundin Fatma: „Wenn er sich so gut an mich erinnert, muss ich wohl einiges richtig gemacht haben.“

Eigentlich wollte sie Historikerin werden und über Karl IV. promovieren. Doch es kam der Krieg dazwischen, sie arbeitete als Sekretärin an der Deutschen Botschaft in der Schweiz und wurde dann in Berlin Lehrerin für Englisch und Französisch. Ihr Vater war ein bekannter Jurist in der Weimarer Republik und Mitglied des Republikanischen Richterbundes. Von ihm hatte sie ihr soziales Herz, von der Mutter eine gewisse Strenge. Obwohl sie immer Rock und Bluse trug und niemals eine Hose, war sie in ihren pädagogischen Auffassungen modern. Sie motivierte ihre Schüler eher, als sie zu tadeln.

Mit ihrer Mutter lebte sie bis zu deren Tod zusammen in einer kleinen Schmargendorfer Wohnung. Das Haus hatte einmal der Familie gehört, bis sie sich die Reparaturen nicht mehr leisten konnten. Es gab auch mal einen Mann in Irma Großmanns Leben, der ihr abhandenkam, womit sie lange haderte. Als sie ihn Jahre später zufällig wiedertraf, war sie aber froh, ihn nicht geheiratet zu haben.

Sie reiste durch die Prärien der USA, mit dem Fahrrad durch Frankreich oder mit der Wanderfreundin im VW Käfer nach Ungarn. Überall knüpfte sie Kontakte, sie organisierte Klassenfahrten nach Frankreich und verhalf einer tschechischen Künstlerin zur Flucht in den Westen. Jedes Jahr zu Weihnachten verschickte sie riesige Pakete an Freunde in Polen, Tschechien und Ost-Berlin.

Zwischen 1963 und 1973 musste sie auf ihre geliebten Wanderungen durch den Oderbruch verzichten, weil sie als West-Berlinerin nicht in den Osten durfte. Stattdessen jedes Jahr nach Bruneck in Südtirol, immer in dieselbe Pension. Mit den Kindern und später den Enkeln der Wirtsleute ging sie Pilze sammeln, mit denen sie sich, wie bei Kräutern und wilden Blumen, bestens auskannte. Zu Hause in Berlin überließ sie Fatma, der Nachbarin, nur ungern die Gartenpflege. Als einmal das winzige Männertreu im Rasen beim Mähen Genickbruch erlitt, verweigerte sie Fatma drei Tage lang den Smalltalk.

Auch nach der Pensionierung lud sie Freunde, ehemalige Schüler und Kollegen zu üppigen Salatbuffets zu sich nach Hause ein. Dunkles Dressing, helles Dressing, Rucola mit Blümchen, Feldsalat mit Tomate, Eier in Mayonnaise. Sie besaß mehr Salatbücher als Kochbücher. Nachts im Bett verschlang sie Arztromane, denn ein bisschen einsam fühlte sie sich manchmal schon. Im Grunde half immer nur die Flucht nach vorn: Reisen in den Nahen Osten, exzessives Fotografieren, Spazierengehen im Kiez. Wenn sie jemanden im Park bei der Gartenarbeit sah, ging sie hin und fragte, ob sie „etwas mitwühlen“ dürfte in den Rabatten, „nur so zur Entspannung“.

Ihre physische Beweglichkeit ließ nach, die geistige nicht. Obst aß sie zeitlebens nicht, dafür liebte sie Kekse und zwei Kannen Tee pro Tag. Für den Notfall, falls es ihr einmal nicht gut ginge, hatte sie mit Fatma, die unter ihr wohnte, ein Zeichen verabredet: „Einfach auf den Boden klopfen, wenn was ist!“

So erwies sich Fatma als die gute Fee des Hauses. „Ohne deine Hilfe wäre ich niemals so alt geworden“, sagte Irma Großmann zu ihr und bedankte sich herzlich. Es klang, als wollte sie sich verabschieden. In der darauf folgenden Nacht starb sie, mit sich und der Welt zufrieden.

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