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Berlin: Irmgard Kares (Geb. 1932)

„Offenes Feuer im Schulbereich ist eigentlich nicht gestattet!“

Die Mädchen mochte sie wohl doch ein klein wenig mehr als die Jungs. Natürlich hatte sie gelernt, dass man als Lehrer keine Unterschiede machen sollte. Aber die Mädchen spielten im Unterricht nicht mit Indianerfiguren unter der Bank, und in ihren Heften fanden sich beträchtlich weniger Eselsohren und Tintenkleckse. Die Mädchen formten akkurate Bögen für das O und das U, sie liefen in der Hofpause friedlich um eine Blumenrabatte und trugen niedliche silberne Anhänger, die Irmgard Kares mitten in der Deutschstunde lobte. „Katja, komm mal zu mir nach vorn, du weißt doch, meine Augen.“ Und Katja trat artig an den Lehrertisch, um das kleine Rund mit ihrem Sternzeichen darauf zu zeigen. „Da hat dir deine Mutti aber was Schönes ausgesucht“, sagte Irmgard Kares, und Katja lief stolz zurück zu ihrem Stuhl. Ein regelrechter Wettkampf entbrannte zwischen den Mädchen, die ihre Mütter bedrängten, ein Schmuckgeschäft aufzusuchen.

Alle Kinder, die Mädchen und die Jungs, freuten sich auf die Vorweihnachtszeit. Anfang Dezember brachte Irmgard Kares eine Kerze, Plätzchen und ein Buch mit in die Schule. Ein Schüler musste das Licht löschen, ein anderer lief mit den Keksen durch die Reihen und Irmgard Kares entzündete die Kerze, wobei sie halblaut sagte: „Offenes Feuer im Schulbereich ist eigentlich nicht gestattet. Aber wie soll es sonst gemütlich werden.“ Dann herrschte Stille. Irmgard Kares begann zu lesen, jeden Tag ein Stück, bis die Weihnachtsferien begannen. Zwischendurch aß auch sie von einem Plätzchen, klopfte sich dann aber auf ihre füllige Hüfte, wobei die goldenen Armbänder an ihrem Handgelenk leise klirrten, und sagte: „Ach, ich muss mal wieder ein bisschen kürzertreten.“

Nie jedoch hörten die Kinder von ihr diese leeren DDR-üblichen Sätze, die in undurchdringlicher Allgemeinheit von Sozialismus und Frieden und Solidarität handelten. Sie hörten aber die Erzählung, wie Irmgard Kares, zehn Jahre jung, im überfüllten Sportpalast saß, weit entfernt auf einem Podest Adolf Hitler stand. „Er schrie“, sagte sie, „mit seiner brüchigen, schrillen Stimme, vor der ich mich fürchtete. Verstanden habe ich kaum ein Wort.“

Den Wunsch, Lehrerin zu werden, fasste Irmgard Kares zeitig. Sie setzte ihre Zelluloidpuppe Maria und einen Holzkasper, dem die Nase abgebrochen war, nebeneinander auf einen Stuhl und trug das Alphabet vor oder zählte bis 100. Ihr wurde nie langweilig dabei, auch als sie für das Lehrerspiel eigentlich schon zu alt war, probte sie in ihrem Kinderzimmer weiter für das spätere, das richtige Leben.

Im späteren, richtigen Leben stand sie vor den Grundschülern, immer in eleganten Blusen und Röcken, sprach ruhig über Zahlen und Buchstaben, über Tiere und Bäume und über Freundschaft. Denn stritten sich die braven Mädchen doch einmal, mussten sie nach der Stunde zu ihr kommen und einander gradheraus sagen, was ihnen an der anderen missfiel.

Im späteren, richtigen Leben heiratete sie einen Architekten, bekam eine Tochter und einen Sohn, fuhr jeden Sommer drei Wochen an die Ostsee, jeden Winter eine Woche in den Harz. Sie malte in kräftigen Farben, mit kräftigem Pinselstrich flache norddeutsche Landschaften und Stillleben nach dem Vorbild der Expressionisten, von denen zwei Drucke über dem Sofa ihrer Eltern gehangen hatten. Sie wurden von der Wand genommen, wenn Leute kamen, die keine Bilder ertrugen, die nicht dem Geschmack des verhinderten österreichischen Kunststudenten entsprachen. Diese Leute saßen dann schwatzend unter den hellen Stellen und Irmgard Kares presste verstohlen ihre Hände gegeneinander.

Immer forderte sie ihre Schüler auf, an Farben nicht zu sparen, sich zu trauen, auch wenn ein Strich auf den ersten Blick nicht so gelungen schien. Und immer hing sie die Bilder aller Kinder im Klassenraum auf und gab die besten Noten. Tatjana Wulfert

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