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Berlin: Irmgard Kerkhof (Geb. 1920)

Sie wusste, wie sich eine Tochter aus gutem Hause zu benehmen hatte

Wenn Irmgard Kerkhof in Weiß gekleidet auf dem Kurfürstendamm aus ihrem roten Porsche stieg, um mit einer Freundin im Kranzler zu frühstücken, ging es ihr nicht um die Aufmerksamkeit. Nicht nur. Das war ganz einfach ihre Art, das Leben zu genießen. Die Wimpern getuscht, die Frisur perfekt: Sie machte sich auch zurecht, wenn es nur kurz vor die Haustür um den Lietzensee ging. Auch wenn die Kunstlehrerin selbst malte, ging es fein zu: Tausende winzige Pinselstriche aneinander ergaben das Bild.

Charlottenburg hatte sie nie länger als für einen Urlaub verlassen. Gut behütet wuchs sie in den Krisenjahren der Weimarer Republik auf: eine Wohnung im Vorderhaus mit Dienstmädchen, ein Dackel namens Peterchen, eine Mutter, die sie liebte, ein Vater, den sie verehrte. Und sie lernte, wie sich eine Tochter aus gutem Hause zu benehmen hatte: Sie schreitet diszipliniert, in vornehmer Zurückhaltung mit geradem Rücken und erhobenem Haupt durchs Leben.

Geschichten aus den frühen Jahren erzählte Irmgard Kerkhof gerne. Mit Unbehagen erinnerte sie sich hingegen, wie Nazilehrer ihren Kopf vermaßen. Peinlich und unfein war das. Auch wenn es nicht ihr Kopf war, der nicht passte, sondern der ihrer Freundin. In Physik schrieb Irmgard Kerkhof bei ihr ab, sie bekam die Eins, die Freundin eine Vier. Als die Freundin eines Tages aus dem Unterricht geworfen wurde und nie mehr wiederkommen sollte, stand Irmgard Kerkhof auf und brachte sie mit Tränen vor die Schule. Der Krieg kam, der Bruder wurde Soldat, die Schwester Kinderärztin. Irmgard Kerkhof begann Kunst zu studieren. Als die Bomber über Berlin flogen, wurde sie mit anderen Mädchen zur Wache eingeteilt. Schlug eine Brandbombe ein, mussten sie ausschwärmen und löschen, mit Wasser, mit Sand, mit Säcken, Nacht für Nacht.

1943 starb ihre kranke Mutter, kurz nach dem Krieg ihr Vater. Bei einem Arbeitseinsatz erlitt er einen Herzinfarkt, man verscharrte ihn am Wegesrand. In dieser Situation zeigte Irmgard Kerkhof, dass ihr Rücken gerade und ihr Haupt erhoben waren, wie sie es gelernt hatte. Sie engagierte ein paar Männer, mit denen sie ihren Vater ausgrub und in einem Handkarren zu einem Krematorium brachte. Dort wollten sie den Leichnahm nicht annehmen, weil er schon einmal in der Erde gelegen hatte, doch die 25-Jährige ließ sich nicht abwimmeln. Es war der Wille ihres Vaters und den setzte sie jetzt durch.

Seit diesem Jahr, 1945, arbeitete sie in der Waldschule in Charlottenburg als Kunstlehrerin. Sie blieb bis zur Pensionierung. Eine klassische Lehrerin war sie nicht. Natürlich konnte sie erklären, was es mit dem Impressionismus auf sich hat, doch lieber ging sie mit den Schülern in den Wald, Bäume und Landschaft aufs Papier bringen.

In ihrer Charlottenburger Wohnung, ein breiter Flur, zwei Zimmer, hingen ihre Bilder. Hier wohnte sie 60 Jahre lang, bis zu ihrem Tod. Sie hatte sich eine Welt erschaffen, die niemand stören sollte. Verliebt war sie schon, mal hier und da, ein bisschen, aber ernsthaft wurde es nie. Vielleicht war in den Monaten nach dem Krieg zu viel passiert, vielleicht hatte sie sich zu sehr an ihre Freiheit gewöhnt. Und einsam war sie wirklich nicht. Bei Freundinnen klingelte das Telefon, schon fuhr sie mit ihrem roten Porsche vor, und los ging es ins Theater, auf den Kurfürstendamm, an den Wannsee. Mit Irmgard Kerkhof fühlte sich jeder jung.

Die Dame aber blieb sie, bis zuletzt. Jede Woche ging sie zum Friseur, auch als sie nur noch mit Trippelschritten vorwärtskam. Ein Rollator oder ein Stock? Niemals. Manchmal nahm sie einen Schirm mit, auch wenn es nicht regnete. Auf den stützte sie sich, wenn keiner hinsah.

Kurz vor ihrem 94. Geburtstag sagte sie: „Ich werde sterben, ich spüre es.“ Dann schlief sie ein. Karl Grünberg

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