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Berlin: Irmtraud Schlosser (Geb. 1945)

Sie machte Eindruck mit Ideen – und weil sie bei Sitzungen Pfeife rauchte.

Franz lebte in ihrer Bauchspeicheldrüse, unauffällig zunächst. Als er sich bemerkbar machte, hatte er sich bereits gefährlich ausgebreitet. Irmtraud gab ihm einen Namen, wie es lebendigen Wesen zusteht, stritt zuweilen mit ihm, aber bekämpfte ihn nicht; schließlich war er ein Teil von ihr.

Irmtraud war im hessischen Idstein aufgewachsen. Ihrem Vater, dem Sozialdemokraten, fühlte sie sich nicht nur politisch viel näher als der Mutter, die ihr unterkühlt begegnete und sich auch über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus ein rassistisches Weltbild bewahrte.

Als Studentin der Soziologie in Berlin schloss Irmtraud sich der Studentenbewegung an. Wäre jemand aus ihrem Freundeskreis bei der RAF gewesen, sagte sie später, vielleicht hätte sie mitgemacht, so wütend sei sie gewesen. Doch sie entschied sich für den „Marsch durch die Institutionen“ und wurde Wissenschaftsplanerin in der Senatsverwaltung. Dort machte sie Eindruck mit guten Ideen – und weil sie bei Sitzungen Pfeife rauchte. Doch Irmtraud wollte selbst wissenschaftlich arbeiten, promovierte und ging an die Uni. Ihre Arbeit sollte politischen Bewegungen zugutekommen. Gemeinsam mit der Gewerkschaft untersuchte sie zum Beispiel die unsicheren Arbeitsverhältnisse von Lehrbeauftragten an Berliner Universitäten. Wie sich herausstellte, verdiente mehr als die Hälfte von ihnen weniger als 1000 Euro netto. Also untersuchte Irmtraud auch, unter welchen Bedingungen sich die Lehrbeauftragten in der Gewerkschaft für eine bessere Bezahlung einsetzen würden.

Nach der Geburt ihrer Tochter Anne 1983 trat Irmtraud in die SPD ein. Gerade als Mutter wollte sie mehr politische Verantwortung übernehmen. Dass ihr Engagement ihr oft wenig Zeit ließ, sich ihrer Tochter zu widmen, gehörte dazu. Irmtraud fand, dass emanzipierte Frauen kein schlechtes Gewissen haben sollten, wenn sie ihrem Beruf nachgehen. Das hieß jedoch nicht, dass sie sich nicht sehr genau überlegte, was gut für Anne sei. So setzte sie dem lockeren Erziehungsstil von Annes Vater Otto, mit dem sie sich auch nach der Trennung die Erziehung teilte, eine Strenge entgegen – wenn auch nicht immer konsequent. Obwohl die Tochter das nicht wollte, schickte sie sie für ein halbes Jahr zum Schulbesuch in die USA.

Zur Bundestagswahl 2002 engagierte sich Irmtraud gemeinsam mit vier weiteren SPD-Mitgliedern recht speziell: Sie setzten in den Tagesspiegel eine Anzeige, „Sozialdemokraten für Hans-Christian Ströbele“. Sie fanden den Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg einfach besser als den SPD-Kandidaten. Der Preis: ein mehrjähriges Funktionsverbot. 2008 trat sie aus der SPD aus.

Ebenso wenig wie von der Parteiräson ließ Irmtraud sich von Vorschriften beeindrucken. Wenn sie etwas für richtig hielt, tat sie es und erfand zur Not selbst eine Vorschrift: Ihrer russischen Kollegin Larissa, die Angst vor dem Fahrradfahren auf der Straße hatte, erklärte sie, dass sie selbst immer auf dem Bürgersteig fahre. Wenn sie angehalten werde, verweise sie auf die jüngst erlassene Verordnung, nach der Frauen ab 62 auf dem Bürgersteig fahren dürften. Immerhin, Larissa glaubte ihr und rechtfertigte sich bald sehr selbstbewusst gegenüber zwei verwirrten Ordnungshüterinnen.

In einer letzten Rundmail an ihre Freunde schrieb Irmtraud: „Mehr denn je konzentriere ich mich auf die kleinen Freuden des Alltags, und davon gibt es übergenug, wenn man sie blicken möchte“. So chaotisch und aufbrausend sie in nebensächlichen Dingen oft war, so bedacht und gelassen wurde sie, wenn Sturm aufkam. Das war schon früher so, wenn sie mit ihrem Lebensgefährten Bodo auf der Ägäis segelte, und auch ganz am Schluss, als Franz das Ruder übernahm. Candida Splett

Candida Splett

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