zum Hauptinhalt

Berlin: Irmtrud Koch (Geb. 1939)

Aber wieso die Romantik und das Staunen verwissenschaftlichen?

Gefunkt hat es erst später. Zunächst war nur die Anzeige da: „Tanzen, tanzen, tanzen möchte F (akad). Welcher nette Mann ab 55 kommt mit zum Tanzkursus 2 für Fortgeschrittene?“

Das „Tanzen, tanzen, tanzen“ sprach ihn an. Als sie sich trafen, stellte er erst einmal den Größenunterschied fest. Ihre 160 gegen seine 185 Zentimeter. Wie sollte das gehen?

Es ging, und mit jedem Tanztreffen ging es besser. Bald stellten sie allerhand geheimnisvolle Übereinstimmungen fest: Abitur auf zweitem Bildungsweg, selbe Studienrichtung, beide ein Jahr lang Assistenzlehrer in London, beide langjährige Abonnenten von „Psychologie heute“. Sie hätten es sich leicht mit Zahlen, Statistiken und Wahrscheinlichkeiten erklären können. Aber wieso die Romantik und das Staunen verwissenschaftlichen? Eine Banane umständlich am stumpfen Blütenende öffnen, statt am Stiel aufzubrechen – wer macht das schon? Sie taten es beide, ihr halbes Leben lang. Immer mehr Gemeinsamkeiten traten zu Tage. Mit den Ohren wackeln können, ein brach liegendes Grundstück in Übersee besitzen. Jede neue Übereinstimmung wurde in eine Liste geschrieben. Gleicher Superlearning-Kursus, selbe Stammtischkneipe – wenn auch an unterschiedlichen Wochentagen. Beide hatten einmal einen Chateau Neuf du Pape in Chateau Neuf du Pape getrunken. Von den vielen Büchern, die beide gelesen hatten, ganz zu schweigen.

Nicht die Gegensätze zogen sie an, sondern die Gemeinsamkeiten. Und doch besaß jeder seine eigene Vorgeschichte. In Berlin geboren, begehrte Irmtrud Koch früh gegen ihre Mutter auf, eine Anhängerin des Ludendorffschen Glaubens, deren Ansinnen und Weltanschauung sie ablehnte. Nach der Ausbildung zur Erzieherin ging sie für ein Jahr nach Kleinwalsertal ins Allgäu. Aber die Arbeit mit kleinen Kindern erfüllte sie nicht vollends. Zurück in Berlin machte sie das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg und nahm ein Lehramtsstudium auf. Deutsch und Englisch, zwei herrliche Fächer, um sich in den Weiten der Literaturgeschichte zu verlieren; zwei zeit- und arbeitsintensive, wenn man sie an der Schule unterrichtet. Um nicht einzuschlafen über den Klassenarbeiten, die sie oft genug in der Nacht korrigierte, stellte sie ihre Füße in eine Schüssel mit eiskaltem Wasser.

Die Schreibtisch-Disziplin während des Schuljahrs glich sie in den Ferien mit weiten Reisen aus. Mit dem Rucksack durch Südamerika, per Anhalter durch Kenia, Inselhüpfen im Sunda-Archipel. Um die heiligen Inkastätten von Machu Picchu vor den Touristenströmen zu genießen, stieg sie nachts mit zwei Mitstreitern durch den engen Eisenbahntunnel, der auf den Berg führte. Von diesem Gipfel aus die Sonne aufgehen zu sehen, entschädigte sie für sämtliche Berliner Nachtschichten. Was sie an Inspirierendem entdeckte, notierte sie auf kleine Zettel. Nur einen Zettelkasten besaß sie nicht, in ihrer Wohnung verteilten sich die bekritzelten Papiere. Selbst geologisches Spezialistenwissen reizte sie: „Schau, da ist ein Toteisloch!“, rief sie hocherfreut auf einem Spaziergang aus. Er guckte in die Landschaft und sah nichts als eine Bodensenke mit Bäumen drum herum.

Kein Vortrag, kein wissenschaftlicher oder spiritueller Inhalt, der sie nicht interessierte. Dass ihre wissbegierige Lebensenergie einmal gebremst werden könnte, bevor sie 114 Jahre alt würde, schloss sie aus. Sie war sich ganz sicher: „Ich breche den deutschen Altersrekord.“

Und dann das: Brustkrebs! Von ihren Willenskräften überzeugt, versuchte sie die Erkrankung mit Hilfe von Naturheilverfahren zu besiegen. Ihre Ärztin legte dringend eine schulmedizinische Therapie nahe, die lehnte sie zunächst aber ab. Einsicht und Operation kamen zu spät. Der Krebs hatte gestreut. Aber aufgeben? Niemals! Wenn schon sterben, dann wenigstens an einem selbst bestimmten Tag. Diesen einen Geburtstag galt es noch zu feiern! Sie wurde genau 71 Jahre alt.

Zur Startseite