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Berlin: Ivo von Trotha (Geb. 1944)

Es ist schwer, Geheimnisse zu haben. Immer ahnt der andere Zwilling etwas

Von Maris Hubschmid

Dem Bruder war er immer ein paar Schritte voraus, bis zuletzt. Abschlüsse, Auszeichnungen, Ämter, die offiziellen Ränge schienen ihm zuzufliegen. Er ging stets den direkten Weg – dabei war er der Zweite: 15 Minuten später kam er zur Welt, für eine Nachgeburt hatte man ihn gehalten an diesem kalten Wintertag in einem Dorf in Pommern. Die Mutter war auf der Flucht, der Vater, Carl-Dietrich von Trotha, vorher Angestellter des Reichswirtschaftsministeriums, untergetaucht. Er wurde als Mitglied der Widerstandsgruppe „Kreisauer Kreis“ verfolgt. Als die erschöpfte Frau, die bereits zwei Söhne im Schlepptau hatte, sich fragte, wie um Himmels willen sie zu allem nun auch diesen kleinen Ulrich behüten sollte, da legte man ihr noch den Ivo in den Arm.

„Als Zwilling“, sagte Ivo viel später einmal, „stehst du oft Rücken an Rücken. Du kontrollierst den Bereich, den du siehst, der andere den Rest. Es gibt keine ungeschützte Stelle.“ Darin, meinte er, lag das gesunde Selbstbewusstsein der Brüder begründet. „Trothas grinsen“, lautete ein Klassenbucheintrag in der privaten Königin-Luise-Stiftung in Dahlem. Wegen „überwiegender Verspieltheit“ hatte man den beiden in der Grundschule in Lichterfelde die Gymnasialempfehlung versagt. Bis weit ins Erwachsenenleben hinein teilten sie eine Neigung für Scherze, die nicht ganz altersgemäß waren. Ivo war schon Richter, ein honoriger Beamter, als er Uli bat, sich für ihn auszugeben, um sich im Gericht ein paar Akten aushändigen zu lassen. Im Auto hatten sie eine täuschend echte Polizeikelle und ein Megafon griffbereit. Wenn es ihnen gefiel, forderten sie andere Autofahrer lautstark auf, rechts ranzufahren.

Aber Ivo konnte auch ernst sein. Zuweilen setzte er ein so finsteres Gesicht auf, dass Menschen, die die beiden verwechselten, seinem Bruder Uli vorwarfen: „Nicht nur, dass du neulich nicht gegrüßt hast, warum hast du bloß so unfreundlich geguckt?“ Ivo trug die Richterrobe mit Genuss, auch dort, wo sie nicht üblich war. Nach 30 Jahren als Arbeitsrichter machte er sich als Anwalt selbstständig. Hatte er eine Verhandlung im Arbeitsgericht, erschien er im Richtergewand. Die eigentlichen Vorsitzenden nahmen das leicht irritiert zur Kenntnis.

Ein Mann von raumfüllender Autorität sei er gewesen, sagt Uli. Ein Mann wie ein Baum, sagt der Pfarrer bei der Beerdigung in Dahlem, wo Ivo im Familiengrab beigesetzt wird. Einige Trauergäste schmunzeln. In seiner zweiten Lebenshälfte hatte Ivo einiges auf die Waage gebracht, deutlich mehr als der auch nicht gerade schlanke Uli.

Zwei tiefe Einschnitte gab es in der Kindheit, den ersten verarbeiteten sie gemeinsam. Acht Jahre alt waren sie, als ihr Vater beim Baden in einem amerikanischen See von einem Motorboot überfahren wurde. Als Austauschprofessor für Politologie war er in die USA gereist. Im Zinksarg kam er zurück. Die Mutter konnte das Haus in Lichterfelde nicht halten, die Familie zog in ein Häuschen nach Zehlendorf. Mit vier Kindern lebten sie dort recht beengt. Im Zimmer der Zwillinge gab es: ein Bett, einen Schreibtisch, dazu ein Klappbett und einen Klappschreibtisch. Ivo war es, der vorschlug, das Los entscheiden zu lassen. Als ihm sowohl das Klappbett als auch der Klappschreibtisch zufielen, kam er nicht auf die Idee, dagegen aufzubegehren. Er stand zu seinem Wort.

Als die beiden 15 waren, blieb Uli sitzen. Eine pädagogische Maßnahme des Lehrerkollegiums, hieß es: Die Brüder gehörten getrennt. Auf einmal musste jeder seinen Alltag für sich bewältigen. Ivo immerhin blieb in dem ihm vertrauten Umfeld. So kam es, dass er ein Jahr früher das Abitur ablegte, mit einem Jahr Vorsprung ins Jurastudium startete – und als Erster auf Karin traf.

„Ivo war immer der größere Charmeur“, sagt Uli. Es fiel ihm leicht, die Frauen für sich einzunehmen. „Welche findest du besser?“, fragte Ivo den Bruder, als er sich zwischen zwei Freundinnen nicht entscheiden konnte. Ein sechsseitiges Gutachten verfasst Uli zugunsten der Frau, mit der Ivo später vier Kinder haben sollte. Wie groß seine Sympathien für die Schwägerin waren, drückt Uli Jahre später so aus: „Hätte er Karin nicht geheiratet, hätte ich es getan.“ Uli wandte sich schließlich den Männern zu. Ivo gab zu bedenken: „Vielleicht hast du nur noch nicht genug ausgetestet, wie schön es mit den Frauen ist.“ Und bat dann noch um eines: „Geh nur nicht Hand in Hand mit deinem Freund in der Öffentlichkeit.“ Der Gedanke, jemand könne meinen, das sei er, behagte ihm nicht.

„In der Beurteilung von Menschen waren wir immer gleich“, sagt Uli. In Nuancen aber unterschieden sich die Auffassungen: Ivo war konservativer. Mit gewissen Ansprüchen auch an die Kinder, klaren Vorstellungen, wie etwas zu laufen hatte, sei es das morgendliche Frühstück oder die Ausbildung. In seinem Büro zu Hause hing ein Schild: „Governor’s Office“. „Er traf alle Entscheidungen im Sinne der Kinder“, sagt Uli, „aber er hat sie auf dem Weg zu diesen Entscheidungen nicht mitgenommen.“ Oft wenden sich die Kinder an den liberalen Onkel, dessen Geduld unverbraucht ist.

Ivo derweil entzieht sich, arbeitet. Auch für Ehrenämter. Er spürt eine soziale Verantwortung, den Willen, zu gestalten. Zu allem bezieht er deutlich Position. Doch er ist auch ein alles bedenkender und abwägender Ratgeber. Als Richter für Arbeitsrecht hatte er eine der höchsten Vergleichsquoten im Land. Die Studenten einer Fachhochschule wählten ihn zum beliebtesten Dozenten. Im Johanniterorden war er Regierender Kommendator in Hamburg – dorthin war er Karin gefolgt. Außerdem saß er im Vorstand der Nikolaikirche und war jüngster Präses der Oberalten, eines jahrhundertealten Kirchengremiums. Im noch heilen Turm der im Krieg zerstörten alten Nikolaikirche ein weithin sichtbares Licht zu installieren, das war seine Idee. Wie eine Kerze sollte es leuchten in der Nacht, Hoffnung geben. Auch für das Hospital und die Altenheimstiftung engagierte Ivo sich. Freunde lud er ein, mit ihm die Hundertjährigen zu besuchen. So alt zu werden, der Gedanke gefiel ihm.

„Ich hätte mir gewünscht, dass er mehr von der Welt sieht“, sagt Uli. „In seinen Kreisen hat er so viel bewirkt, aber die ganz großen Kreise hat er nicht gezogen.“ So oft es geht, besucht Ivo den Bruder in Berlin, in dem Häuschen in Zehlendorf. Uli bewohnt es inzwischen allein. Um es nach dem Tod der Mutter halten zu können, zahlen die Zwillinge die älteren Geschwister mit der Hilfe von Freunden aus. Nun steht auch Ivos Name wieder an der Tür: „Außenstelle Ivo von Trotha“.

Uli, der nur den ersten Jura-Abschluss gemacht hat, hatte ein wechselvolleres Berufsleben als sein Bruder. Er war mal Journalist, dann vermietete er Autos an DDR-Firmen, dann war er Unternehmensberater, jetzt ist er Mediator für Ehe- und Familienfragen. Im offenen Fernsehsender Alex hat er eine eigene Talkshow.

Als beide schon 64 sind, sitzt Ivo in der Sendung. Der Titel: „Zwillingsdasein – Fluch oder Segen?“ „Ich fühle mich doppelt stark durch dich“, sagt Ivo, „wir verstehen uns ohne Worte.“ Wenn jemand ihm erzähle, der Uli habe das und das gesagt, dann wisse er sofort, ob derjenige lügt oder nicht. Der eine weiß zwar nicht immer, was der andere denkt, aber er weiß, wie er denkt. Darum wohl ist es unter Zwillingen auch schwer, Geheimnisse zu haben. Immer ahnt der andere etwas. Von Ivos unehelichem Sohn Adrian zum Beispiel. Dessen Mutter ist eine Freundin der Familie. Acht Jahre lang wusste niemand, wer sein wirklicher Vater war. Uli konnte es sich vorstellen.

Bei Ivos Trauerfeier in der St. Annen-Kirche lesen alle seine Kinder gemeinsam das Hohelied der Liebe. Adrians Mutter spielt die Orgel.

Ein echter Fluch des Zwillingsdaseins falle ihnen nur einer ein, sagen die Brüder vor der Kamera. „Wenn einmal einer von uns geht, das wird richtig schlimm.“ Ivo sagt zu Uli: „Ich weiß, dass du alles in meinem Sinne regeln wirst. Zu dir habe ich ein Urvertrauen wie zu niemandem sonst auf der Welt.“

Mit einer Lappalie fing es an, dann musste Ivo binnen vier Monaten 15 Operationen über sich ergehen lassen. Seinem Bruder gab er sämtliche Vollmachten. Er schrieb ihm: „Wenn ich etwas nicht bedacht habe, wirst du wissen, was ich noch geschrieben hätte. Du wirst es fühlen. Dein Ivo.“

Am dritten Januar hatten die beiden ihren 70. Geburtstag feiern wollen. Am Silvesterabend ist Ivo Uli wieder einmal vorausgegangen.

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